„Wenn ich früher meine Eltern besuchte, hatte meine Mutter immer mein Lieblingsessen vorbereitet.“ So erzählt David Sieveking am Anfang seines Films aus dem Off, und wir sehen die freundliche weißhaarige Frau mit dem Kochlöffel am Herd. Dann ein Familienfoto, mit den Eltern, der Schwester und deren Kindern. Irgendetwas stimmt nicht an diesen glücklichen Bildern: „Irgendwann fielen mir all die Merkzettel meiner Mutter auf“, erzählt der Filmemacher, „und dann an Heiligabend gab es nur Suppe. Zur Bescherung bekam ich gar kein Geschenk von ihr...“
David Sieveking führt den Zuschauer als Erzähler leise, fast beiläufig in seine Familie und den langsamen Verfall der Mutter ein. Sie leidet an fortschreitender Demenz, der Vater, emeritierter Mathematik-Professor, ist der neuen Situation kaum gewachsen. Aus dem Dilemma heraus, einerseits in dieser schwierigen Situation bei seiner Familie sein zu wollen und andererseits seinen Lebensunterhalt als Filmemacher verdienen zu müssen, schlägt der Sohn vor, Krankheit und Pflege, Gretes Alltag und ihr Leben mit der Demenz, zu dokumentieren. Die Familie akzeptiert, David zieht mit seinem Kameramann für einige Monate wieder in sein Elternhaus im hessischen Bad Homburg ein. Er begleitet seine Mutter und seinen Vater in allen Höhen und Tiefen des Alltags.
„Vergiss mein nicht“ ist das beeindruckende filmische Porträt einer starken Frau und ihrer Familie – und der Veränderung, die durch eine fortschreitende Demenz sowohl die Kranke als auch die familiären Beziehungen erfahren. Vor zwei Jahren erzählte Sieveking in seinem sehr persönlichen Dokumentarfilmdebüt „David Wants To Fly“
(fd 39 855) von seinen Erfahrungen mit Spiritualität als Geschäft und von seiner großen Enttäuschung über sein Idol, den Filmemacher David Lynch. Auch in seinem jüngsten Film beherrscht er wieder diese Balance zwischen tragischen und komischen Momenten, zwischen der eigenen emotionalen Betroffenheit und der dokumentarischen Beobachtung, zwischen Nähe und Distanz zur eigenen Familie. „Vergiss mein nicht“ ist auch eine Reise in frühe Familiengeschichte: Über Fotos, Filmaufnahmen und über Erinnerungen des Vaters und alter Freunde rekonstruiert der Sohn die Vergangenheit, die der Mutter abhandengekommen ist. Gretel und Malte sind seit Jahrzehnten verheiratet haben zwei Töchter und einen Jungen: ein Ehepaar aus der 1968er-Generation, politisch engagiert, intellektuell aufgeschlossen, modern und in der Beziehung nicht Besitz ergreifend. „Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft“, zitiert der Regisseur seine Mutter.
Mit der Krankheit müssen nun die familiären Rollen neu definiert werden; die beschützende Mutter muss jetzt und behütet werden, der früher umsorgte Sohn übernimmt die Versorgung. Er hinterfragt aber auch Wertkonzepte, Strategien der Lebensplanung: Was bleibt in Zeiten der Demenz von einem Leben, das in erster Linie auf intellektuelle Fähigkeiten, auf Informationsverarbeitung und logischen Diskurs ausgerichtet war? Das Porträt einer Familie im „Pflegenotstand“ zeigt eine Metamorphose, von Verzweiflung und zornigem Aktivismus über Streit und latente alte Familienkonflikte hin zu einer liebevollen, fast heiteren Gelassenheit im Umgang mit Krankheit, Verfall und Tod. „Vergiss mein nicht“ lebt von kleinen Gesten und Beobachtungen, hat wunderbare, fast befreiende Momente abseits der Tragödie, in denen sich ein neuer, zärtlicherer, physischerer Umgang miteinander manifestiert – Momente, die Sieveking als „Vergessen des Vergessens“ beschreibt.
Sein Film ist eine Liebeserklärung an die Mutter, erzählt einen Abschied, der aber nie bitter wird. Eigentlich sollte Gretel das fertige Werk noch sehen, aber die Krankheit war schneller. Sieveking hat zu seinem Film ein Buch geschrieben, das vieles ergänzt: die vergebliche Suche nach einer medizinischen Diagnose, die endlose, deprimierende Irrfahrt durch Intensiv- und Wachstationen, den Kampf gegen den körperlichen Zerfall und wie die Angehörigen von Demenzkranken vom Gesundheitssystem im Stich gelassen werden. „Vergiss mein nicht“ endet offen, das Buch beginnt mit dem Tod. Er hinterlässt starke Erinnerungen: an Gesten, Gesichter, an Gefühle. Angesichts der Themen Alzheimer und Tod ist so ein zutiefst lebensbejahender Film entstanden.
Hinweis:
Dass das Thema Alzheimer bzw. Demenz in den letzten Jahren immer stärker präsent ist in unserer Gesellschaft, spiegelt auch die Anzahl der Filme, die sich damit beschäftigt haben. Neben Dokumentationen wie „Vergiss mein nicht“ sind es auch Spielfilme, die versuchen, sich der Krankheit und ihren kosequenzen für Betroffene und Angehörige zu nähern. Einen Essay, der sich mit dieser Aufarbeitung des Krankeitsbildes Alzheimer im Kino des letzten Jahrzehnts befasst, finden Sie in unserer nächsten Ausgabe fd 4/2013.