Whip Whitaker arbeitet als Pilot für eine regionale Fluglinie im Süden der USA. Ein Vollprofi, dem man, was das Steuern eines Flugzeugs angeht, nichts mehr vormachen kann, der sich darum aber auch die eine oder andere Nachlässigkeit erlaubt. In der Eröffnungsszene liegt er morgens in Orlando mit einer schönen Stewardess im Bett, obwohl er bereits zwei Stunden später den nächsten Flug nach Atlanta steuern soll – nach einer Nacht voller Alkohol, Drogen und Sex, wie die Unordnung im Hotelzimmer andeutet. Bevor er ins Cockpit eilt, gießt er sich heimlich noch zwei Fläschchen Wodka in den Orangensaft, grüßt den verdutzten Co-Piloten und erschreckt die 102 Passagiere nach dem Start mit einem rasanten Steilflug in den blauen Himmel, um einem Unwetter zu entgehen. Für Whitaker ein Klacks. Nun ist Zeit für ein Nickerchen. Doch plötzlich verliert der Jet an Schub, eine Turbine fängt Feuer, und dann befindet sich das Flugzeug im freien, unkontrollierten Fall. Mit einem tollkühnen, aberwitzigen Manöver landet Whitaker den Flieger auf einem Feld und rettet 96 Menschen das Leben.
Es gibt nur wenige Seherfahrungen, die einem im Kino so sehr an die Nieren gehen wie ein Flugzeugabsturz. Das hat mit der Größe des Transportmittels zu tun, mit der Anzahl von Menschenleben, die gefährdet sind, mit dem Ausmaß der Zerstörung, das so viel katastrophaler ist als bei einem Verkehrsunfall, mit der Dauer bis zum Aufprall, die das Grauen und die Hilflosigkeit unendlich zu strecken scheint, aber auch mit konkreten Alltagserfahrungen von Zuschauern, die sich als Passagiere in einem Flugzeug klaustrophobisch eingesperrt fühlen. Das macht aus Flugzeugabstürzen eine filmische Attraktion, die Action und Angst zu einem glaubwürdigen Szenario verknüpft. Allein durch die schiere Intensität der ersten 20 Minuten stellt „Flight“ die Unglücksflüge aus „Fearless – Jenseits der Angst“
(fd 30 664) und „Überleben“
(fd 30 201) in den Schatten. Eine atemberaubende, beängstigend realistische Sequenz, ebenso brillant in Szene gesetzt wie rasant geschnitten, mit aufmerksamem Blick für kleine Details und die Panik der Fluggäste.
Hatte man eben noch den Eindruck, einen Katastrophenfilm zu verfolgen, gibt das Drehbuch der Geschichte nun eine andere Richtung. Whitaker, wegen seiner geistesgegenwärtig-genialen Rettung als Held gefeiert, zieht sich nach kurzem Krankenhausaufenthalt auf die Farm seines Großvaters in Georgia zurück. Als erstes schüttet er jede Schnapsflasche im Haushalt in den Ausguss, was das Ausmaß seiner Alkoholsucht bewusst macht. Eine Abhängigkeit, die nicht nur seine Ehe zerstört, sondern ihn auch von seinem Sohn entfremdet hat. Bluttests beweisen, dass Whitaker unter Alkohol- und Drogeneinfluss geflogen ist. Er hat zwar 96 Menschenleben gerettet, doch sechs Passagiere sind gestorben. Wäre er in diese Situation geraten, wenn er nüchtern und ausgeschlafen gewesen wäre? Eine Untersuchung ergibt, dass ein technischer Fehler die Ursache des Absturzes ist. Sie ergibt aber auch, dass zwei Wodkafläschchen fehlen. In einer Anhörung muss sich Whitaker entscheiden, ob er seine Verantwortung unter den Tisch kehren oder sich seinen inneren Dämonen stellen will.
Ein Konflikt, der aus Whip Whitaker einen tragischen Antihelden macht. Denzel Washington spielt ihn in einer der besten Leistungen seiner Karriere als Mischung aus kühlem Profi, der seinen Beruf wie kein anderer beherrscht, und zutiefst verstörtem Mann, der den Versuchungen seiner Umgebung nicht widerstehen kann. Seine Freunde sind dabei kein Hilfe. John Goodman, der (wohl nicht von ungefähr) an Walter Sobchak aus „The Big Lebowski“
(fd 33 061) erinnert, mimt einen jovialen Dealer, der immer im falschen Augenblick für Nachschub sorgt und somit dem Film einige komische, allerdings unpassende Momente verleiht. Die existenzielle Krise wird noch dadurch verstärkt, dass Whitaker weder bei der Kirche noch bei den Anonymen Alkoholikern Trost findet. Auch die öffentliche Anhörung ist eine Farce, weil in Hotel- und Hinterzimmern, von Kameramann Don Burgess schmucklos und nüchtern ausgeleuchtet, von humorlosen Anwälten windige Deals ausgehandelt werden. Whitaker muss seinen Konflikt, in dem es auch um moralische Integrität geht, mit sich selbst ausmachen. Das verleiht dem Film von Robert Zemeckis, der nach seinen Motion-Capture-Trickfilmen erstmals seit zwölf Jahren wieder einen „normalen“ Spielfilm drehte, eine komplexe Ebene, in der Schuld und Sühne glaubwürdig und anspruchsvoll diskutiert werden. Es passiert nicht gerade oft, dass man nach einem Actionfilm das Kino nachdenklich verlässt.