Unter einem Bettlaken hockt ein kleiner Junge wie in einem leuchtenden Zelt. Es ist Nacht. Während seine Familie schläft, richtet er seine Taschenlampe auf einen Comic. In der Geschichte aus dem indischen Mahabharata-Epos entdeckt die Ziehmutter des kindlichen Krishna, dass im Mund des kleinen Gottes das ganze Universum steckt. Man sieht die flache Comiczeichnung von Planeten und Galaxien, die sich vor unseren Augen in eine kitschige 3D-Animation verwandelt. Wozu bloß? Seht her, sagt das Bild, so tief taucht der kleine, nach einem Pariser Freibad getaufte Piscine Molitor, der Pi genannt wird, wie die unendliche Zahl, in seine Fantasiewelten ein! Das Bild sagt aber vor allem: Dieser Film war teuer, ihr habt Euch Stereobrillen aufgesetzt, und jetzt zeigen wir Euch, warum sich der ganze Aufwand gelohnt hat.
Die kurze 3D-Welle in den 1950er-Jahren brachte vor allem B-Movies in die Kinos, die den Stereoskopie-Effekt unbedingt nötig hatten. Heute werden jenseits des Animationsfilms vor allem Prestige-Produktionen in 3D gedreht; Ang Lees „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“ bestätigt dies nachhaltig. Die Situation erinnert an die Einführung von Technicolor ab 1935. Schwarz-weiß blieb noch mehr als zwei Jahrzehnte lang der Normalfall; Farbfilme waren Luxus und auch aus technischen und ästhetischen Gründen „nicht von dieser Welt“. Heute gehört Farbe zum Kinoalltag. Ob sich diese Entwicklung beim Stereofilm wiederholt? Wohl kaum, wenn die Kameraleute den maximalen 3D-Effekt auch bei mittleren und längeren Brennweiten herausholen wollen. Nur bei Weitwinkelaufnahmen entspricht der Stereoeffekt einigermaßen dem menschlichen Blick; das erlebt man auch bei „Life of Pi“. Tele-Einstellungen erinnern dagegen an hintereinander gestaffelte Theaterprospekte, ein Effekt, den Claudio Miranda in der Vorspannsequenz geschickt nutzt, wenn wie in einem Diorama die Künstlichkeit eines Zoos im indischen Pondicherry enthüllt wird. Es sind Trugbilder eines paradiesischen Bunds zwischen Mensch und Tier. Das muss auch Pi erfahren, der jüngere Sohn des Zoodirektors. Sein Vater erteilt dem naiven Jungen eine Lektion am Tigerkäfig. Fortan ist der heranwachsende Protagonist innerlich gespalten: Kann die reißende Bestie eine Seele besitzen? Als politische Unruhen das Land erfassen, beschließt die Familie auszuwandern. Nicht alle Tiere lassen sich verkaufen, daher wird ein Teil des Zoos auf das Frachtschiff nach Kanada verladen. Bei einem Sturm im Pazifik geht das Schiff aber unter. „Es gab einen Ton von sich wie ein riesiges metallisches Rülpsen. Sachen blubberten an der Oberfläche, dann verschwanden sie. Alles brüllte: der Wind, die See, mein Herz“, schreibt Yann Martel in seinem Roman „Schiffbruch mit Tiger“. Die Filmadaption belegt einmal mehr die Vielseitigkeit des taiwanesischen Regisseurs Ang Lee, dessen Drang, sich (auch was das Genre betrifft) nicht zu wiederholen, an klassische „auteurs“ wie Howard Hawks oder John Huston erinnert. Hier wie dort führt das indes nicht zu motivischer Beliebigkeit. Das Gefühl des Eingesperrtseins in Konventionen oder politische Systeme, der Rückzug in (Natur-)Räume, die nur Zuflucht, aber keine Erlösung bringen, prägt Lees Martial-Arts-Filme ebenso wie seine Dramen, etwa „Der Eissturm“
(fd 32 888) oder „Brokeback Mountain“
(fd 37 478).
Der Wunsch nach Befreiung ist auch Thema des neuen Films, wobei die Zweifel des Jungen an seinem hinduistischen Hintergrund, an religiösen Traditionen überhaupt, von Regie und Drehbuch gegenüber dem Roman stärker herausgearbeitet werden. Am Ende einer 227 Tage währenden Irrfahrt auf offener See steht eine Art vorläufiger Gottesbeweis: Zwei Überlebensberichte sind möglich, ein realistischer und ein fantastischer; in beiden Fällen geht das Schiff unter, beide Male kommt Pis Familie ums Leben, während der 17-Jährige über Wasser bleibt. „Welches ist die bessere Geschichte, die mit den Tieren oder die ohne Tiere?“, fragt der Gerettete zwei Ermittler des japanischen Verkehrsministeriums. „Die mit den Tieren.“ „Danke“, entgegnet Pi, „und genauso ist es mit Gott.“
Die „Geschichte mit den Tieren“ steht im Zentrum des Buchs und seiner Verfilmung. Auf dem Rettungsboot findet sich Pi mit einer Ratte, einem Orang-Utan-Weibchen, einer Hyäne und einem Zebra wieder. Da kommt der Tiger angeschwommen, was dazu führt, dass der Junge bald nur noch seinem „Angsttier“ gegenüber sitzt. Die Computersimulation ist zwischenzeitlich so fortgeschritten, dass die dramatischen Ereignisse in der Nussschale überaus echt wirken. In der Verräumlichung von „combine shots“ des vorzüglichen Pi-Darstellers Suraj Sharma mit nahtlos dazu gerechneten Fressfeinden liegt ein großer Illusionsvorteil der 3D-Technik. Atemberaubend sind bereits die Szenen vom Schiffsuntergang, vor allem ist es eine Plansequenz im Hexenkessel der schäumenden See voller Raubfische, mittendrin der Jugendliche unter Wasser, der den Frachter steil in die Tiefe sinken sieht. James Cameron dürfte rasen vor Neid. Für Augenlust sorgen auch die 1001 Wunder der Meere, darunter ein leuchtender Quallenschwarm, fliegende Fische, ein Wal und eine seltsame Insel, die sich nachts in ein Menschen- und Tierfleisch fressendes Ungeheuer verwandelt. Auch im mal nervenzerfetzenden, mal bedrohlichen entschleunigten Duell zwischen Mensch und Tiger macht die Stereoskopie geschmackliche Ausrutscher wett. Dramaturgisch sinnvoll erscheint das Verfahren dort, wo der Abstand zwischen Raubkatze und gewitztem Jungen greifbar wird – oder die lebensgefährliche Nähe. Es gibt kaum Momente, in denen Pi sich seinem hungrigen Leidensgenossen nähern kann. Mit der Hilfe eines Rettungsrings, mit Seilen, Holzstöcken und einer Abdeckplane meistert Ang Lee die Aufgabe, den Status quo der Hauptfiguren über weite Erzählstrecken aufrechtzuerhalten.
Ebenso großartig ist Lees Kunst, die Kernfrage nach der Seele im Tier und damit nach der Existenz Gottes bis zum Nachspann in der Schwebe zu halten. Freilich wird die Geschichte des Rettungsboots durch ein Riesenarsenal optischer Gimmicks identifikationshemmend zur visuellen Luxusyacht aufgerüstet, während die Musik von Mychael Danna eher im Mainstream dümpelt. Es sieht so aus, als ob das Zusammenspiel von Ton und Bild neu verhandelt werden muss; das Warten auf den rundum überzeugenden 3D-Film ist noch nicht zu Ende.