David schreibt fantasievolle Geschichten, löst gerne knifflige Rechenaufgaben, interessiert sich für Astronomie, spielt Klavier und Trompete und verhält sich gegenüber seinen Klassenkameraden überaus zuvorkommend. Damit ist er in der Münsteraner Berg Fidel Schule, benannt nach dem Stadtteil, in dem sie liegt, so etwas wie ein Musterschüler. Sicherlich wäre er das auch in jeder anderen Grundschule, doch die meisten von denen dürfte er gar nicht besuchen. Denn David sieht auf einem Auge fast nichts und ist zudem auf ein Hörgerät angewiesen. Zu seinem Glück ist Berg Fidel eine so genannte Inklusionsschule, in der behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Das ist in Deutschland noch immer die Ausnahme, wo 85 Prozent der lernbehinderten Kinder spezielle Förderschulen besuchen.
Vier Kinder mit unterschiedlichen Lernbehinderungen hat Hella Wenders für ihren Dokumentarfilm drei Jahre lang durch ihren (Schul-)Alltag in Münster begleitet. Neben David sind dies dessen jüngerer Bruder Jakob, der das Down-Syndrom trägt und sich nur mit Mühe artikulieren kann; Lucas, der gegen seine Lese- und Rechtschreibschwäche ankämpft, und Anita, die mit ihren Eltern und Geschwistern vor dem Krieg aus dem Kosovo flüchtete und sich mit dem Lernen in deutscher Sprache schwer tut. Die Besonderheit dieser Langzeitbeobachtung besteht vor allem in der Konsequenz, mit der die Regisseurin bei ihren (Haupt-)Protagonisten bleibt. Weder Eltern noch Lehrer geschweige denn externe Experten, sondern einzig die vier Schüler kommen zu Wort. Die Kamera beobachtet sie vorwiegend im Klassenraum oder daheim; zwischendurch äußern sie sich auch in Einzelstatements, in denen sie ihre Sicht der Dinge darlegen. Was zuweilen durchaus unterhaltsam ist, etwa wenn Auto-Fan Lucas erklärt, dass „Opas keine Sportwagen“ fahren, weil das „ja dumm aussähe“; auch wenn im Klassenrat Kinder hie und da beklagen, von anderen beleidigt worden zu sein, oder Jakob mit gelegentlichen Wutausbrüchen nervt, erscheint Berg Fidel wie ein Biotop der Glückseligen. Was immer das Quartett in der Klasse unternimmt, stets kümmern sich Mitschüler und Pädagogen überaus liebevoll um sie. Dadurch erscheinen David, Jakob, Lucas und Anita bestens integriert; vielleicht wäre es im Sinne der Inklusion für den Film sinnvoll gewesen, auch einige Kinder ohne Lernbehinderung zu Wort kommen zu lassen. Als Bestandsaufnahme der Diskussion über die (auch von der UN längst angemahnten) Reform hin zum integrativen Unterricht taugt „Berg Fidel“ ohnehin nur bedingt. Dazu hätte beispielsweise auch die Befürchtung vieler Eltern von nicht behinderten Kindern gehört, Mitschüler mit Handicaps könnten das Lernniveau senken und dem eigenen Nachwuchs zum Nachteil gereichen. Dennoch ist die unkommentierte Dokumentation (einige Fakten werden in Form von Schrifttafeln eingeblendet) ein stilles, gleichzeitig bewegendes Plädoyer gegen das frühe Aussortieren im deutschen Schulsystem. Wenn im Abspann zu lesen ist, dass drei der vier Protagonisten nach der Grundschule doch auf besonderen Förderschulen landeten und selbst der hochintelligente David zwei Absagen von Gymnasien erhielt, bevor er einen Platz an einer Gesamtschule fand, bleibt nicht nur der Film ohne Happy End.