Filme über das Sterben eines nahen Angehörigen setzen sich stets der Gefahr aus, als sentimental abgeurteilt zu werden. Dabei vermischt sich leicht die Einschätzung des Films mit dem Gefühl des Verlusts und der Trauer, das dem geschilderten Ereignis von Natur aus innewohnt. Wenn das so ist, um wie viel schwerer mag es ein Filmemacher dann mit dem Versuch der Darstellung und Bewältigung einer Tragödie vom Ausmaß des Terroranschlags vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center haben, bei dem Tausende von Menschen ums Leben gekommen sind. Jonathan Safran Foer hat in seinem 2005 erschienenen Roman ein kompliziertes literarisches Konstrukt erfunden, um des Themas Herr zu werden. Daraus einen Film zu machen, der das alles in Bilder umsetzt, erscheint wie eine unmögliche Aufgabe. Stephen Daldry hat es dennoch gewagt, und das Ergebnis ist in seiner gewichtigen Emotionalität nicht weit von dessen früheren Filmen „Billy Elliot“
(fd 34 566), „The Hours“
(fd 35 876) und „Der Vorleser“
(fd 39 157) entfernt. Wer diese Filme kennt, wird erst gar nicht erwarten, dass „Extrem laut und unglaublich nah“ eine politische oder auch nur rationale Annäherung an den inzwischen bereits historischen Vorgang sein könnte. Für amerikanisches Publikum liegt Daldry jedoch ganz richtig: 9/11 ist in diesem Land bis heute ein unbewältigtes Trauma, dessen bloße Erwähnung eine Vielzahl emotionaler Reaktionen auslöst – von Verlust, Zorn und Trauer bis zur Verinnerlichung der Erkenntnis, dass die als selbstverständlich empfundene Sicherheit Amerikas ein für alle Mal dahin ist.
„Wenn jetzt die Sonne explodieren würde“, sagt der elfjährige Oskar zu Beginn des Films, „würde es noch acht Minuten dauern, bis wir es bemerken. So lange braucht nämlich das Licht, um auf der Erde anzukommen.“ Für den kleinen Oskar und für das amerikanische Publikum sind die acht Minuten nach 9/11 noch nicht vorbei. Der Schock und der Schmerz sitzen zu tief, als dass man von einer Bewältigung reden könnte. Deshalb macht sich der unter Asperger leidende Oskar mit seinem überentwickelten Organisationstalent auf die Suche nach einem Hinweis, wie er seinem bei dem Anschlag ums Leben gekommenen Vater nahe sein könnte. Er tut auf kindliche Weise, was jeder nach dem Verlust eines nahen Verwandten tun würde: Er sucht nach Möglichkeiten und Zeichen, die es ihm erleichtern, mit seiner Trauer fertig zu werden. Der Film führt dazu ein vielleicht etwas zu trivial anmutendes Symbol ein, indem er Oskar einen Schlüssel finden lässt, von dem das Kind annimmt, der Vater, der Oskar zu Lebzeiten stets auf fantastische „Entdeckungsexpeditionen“ geschickt hat, habe ihn hinterlassen, um schließlich das Schloss zu finden, auf das der Schlüssel passt, und mit dieser Entdeckung die Antwort auf alle bedrängenden Fragen.
Wer es nicht ertragen kann, dass eine Tragödie vom Ausmaß 9/11 auf die Story eines leidenden Kindes reduziert wird, statt von Terrorismus und Bedrohung des Vaterlands zu handeln, verlässt besser an dieser Stelle den Film; denn alles, was danach kommt (und es sind fast noch zwei Stunden), bewegt sich auf der Ebene des Kindes und wird aus dessen Perspektive geschildert: die Entdeckung des Namens „Black“ auf dem Umschlag, in dem der Schlüssel steckt; die Besuche bei den über 400 Blacks, die in New York City wohnen; die Partnerschaft mit einem alten Mann, der vielleicht Oskars Großvater sein könnte und der durch seine Lebensumstände dazu bewogen wurde, für den Rest seines Daseins nicht mehr zu sprechen. Wer genau hinsieht, findet Hinweiszeichen dafür, dass sich Daldry vorsichtig bemüht, 9/11 in Beziehung zu anderen Katastrophen zu setzen, die die Menschen sprachlos gemacht haben, etwa die Bombardierung Dresdens. Doch das sind Steinchen am Wege, die nicht ablenken von der systematischen Suche nach dem einen Menschen, dessen Name Black ist und der das vermutete und erhoffte Geheimnis des Schlüssels lüften kann. Daldry weiß – und zum Schluss seiner Entdeckungsexpedition weiß es auch Oskar –, dass der Weg oft wichtiger ist als das Ziel. Wichtig sind die Menschen, mit denen Oskar in Berührung kommt, deren persönliche Umstände und Reaktionen, wie jeder seinen eigenen Lebensweg weiter geht, wie die Welt nicht zum Stillstand gekommen ist.
Es gibt Kritiker, die „Extrem laut und unglaublich nah“ als manipulativ empfunden haben. Dem kann insoweit kaum widersprochen werden, als jede Annäherung an ein Thema von der Größenordnung 9/11 aus der Perspektive eines Elfjährigen naturnotwendig eine Manipulation ist. Bis auf die Schlussszenen, die allzu spekulativ auf die Tränendrüsen drücken, bleibt Daldry aber erstaunlich bei der Sache, wenn man seine Methode der Aufarbeitung zu akzeptieren vermag. Mit gelegentlichen Rückblenden motiviert er glaubwürdig Reaktionen und Verhaltensweisen des Kindes, und mit der Wahl der von Oskar besuchten Familien vermittelt er eine Art Querschnitt typischer amerikanischer Bürger und entwirft wie nebenbei ein geografisches Porträt der Stadt, die in ihren Grundfesten erschüttert wurde, aber im Großen und Ganzen unverändert weiter besteht. Sogar die Besetzung der Elternrollen mit Stars vom Kaliber Tom Hanks und Sandra Bullock hat ihn nicht dazu verführt, aus deren Beliebtheit beim Publikum Kapital zu schlagen. Beide treten in ihrer Bedeutung für die sich entwickelnde Suche des Kindes deutlich hinter der bewegenden Figur des alten Manns (Max von Sydow) zurück, der Oskar wortlos begleitet und in dessen Gesicht die bitteren Erfahrungen eines langen Lebens eingraviert zu sein scheinen. „Extrem laut und unglaublich nah“ ist einer jener Filme, denen man sich öffnen muss, um ihre Botschaft zu hören. Die Geister mögen sich an ihm scheiden, wie es in den USA der Fall war. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass hier ein feinfühliger Regisseur versucht hat, einen unkonventionellen Schritt in Richtung auf die Bewältigung eines Traumas zu tun, das auch zehn Jahre danach immer noch eine ganze Nation bewegt und verunsichert.