Es ist ein unscheinbarer Gegenstand aus Messing, und doch hütet es ihn wie seinen Augapfel: Im stärksten Gedränge, todkrank von den Strapazen der gerade durchlittenen Deportation, wirft sich ein jüdisches Mädchen auf diesen kleinen Schlüssel, der ihm wichtiger zu sein scheint als das eigene Leben. Denn zu jedem Schlüssel gehört ein Schloss. Und zu jedem Schloss gehört ein Inhalt, der vor der Außenwelt verborgen werden soll. Für die zehnjährige Sarah muss dieser Inhalt eine unvorstellbare Last sein, unter der sie fast zusammenbricht und die sie doch immer weiter treibt: Im Pariser Sommer des Jahres 1942 sperrt Sarah ihren kleinen Bruder kurz vor dem Verschleppen ihrer jüdischen Familie in den Wandschrank ein. Durch die Tapete wird die Tür eins mit der Wand, bleibt von der kollaborierenden Polizei so unentdeckt wie der kleine Junge in ihrem Innern, während seine Verwandten in einen Albtraum abgeführt werden.
Über 50 Jahre mussten vergehen, ehe sich Jacques Chirac im Jahr 1995 öffentlich und stellvertretend für sein Volk für die Razzia des Juli 1942 entschuldigte, bei der auf Anweisung des mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regimes über 12.000 jüdische Pariser in das Radstadion Vélodrome d’Hiver und später in Internierungslager verschleppt wurden. Der Jahrestag dieser erlösenden Rede wird im Film zum Aufhänger für einen Artikel, den die amerikanische Journalistin Julia schreiben möchte und der sie direkt auf die Familiengeschichte von Sarah stößt. Denn verborgen wie dieser kleine Junge ist auch Sarahs Geschichte und die der Familie von Julias Verlobten, von Bertrand. Mit diesem wollte Julia in eben jene Pariser Wohnung ziehen, die einst Sarahs Eltern gehörte. Julia recherchiert Sarahs Leid hinterher, wird von dieser Geschichte „gefangen genommen“, und das in der Gegenwart, was den Film bezüglich seiner zeitlichen und emotionalen Ebenen so vielschichtig macht. Wie der Schrecken im Film mit den elegant eingefügten Rückblenden Bild wird, so wird er es auch im Kopf der schwangeren 40-Jährigen, während Bertrand nicht schon wieder Windeln wechseln und Nächte durchwachen will.
Für die französische Journalistin und Schriftstellerin Tatiana de Rosnay wurde die tragische Entscheidung eines Mädchens, das diese niemals verkraftete, zur Basis ihres gleichnamigen Roman, der dem Film zu Grunde liegt. Allmählich enthüllt sich darin ein verdrängtes „Erbe“ der Mitschuld unter dem Stern des Profits, das Bertrands alteingesessene Familie mit vielen in Europa teilen mag. Was sich dabei herauskristallisiert, ist ein tief eingebrannter, schwarzer Fleck in der Geschichte einer Familie und einer Nation. Gerne würden die Betroffenen darüber den Mantel des Schweigens breiten, doch Julia, die eingewanderte Amerikanerin, lässt das Vergangene nicht los: Als schockierte Aufklärerin versucht sie, Sarah und ihre Nachkommen zu finden. Sie ist die Gralshüterin dieser Geschichte des Unglücks, von dem die Hinterbliebenen vielleicht gar nichts mehr erfahren wollen. Jede dramatische Wendung nimmt Gilles Paquet-Brenners Verfilmung dabei mit, und das mit viel Verve und dem Mut, eine sehr persönliche Geschichte zu erzählen. Dennoch wird das nie rührselig, entpuppt sich vielmehr als die sehr intime Herangehensweise an menschliches Fehlverhalten und damit als große Regie-Leistung von Paquet-Brenner. Differenziert umkreist der Film das Thema einer Schuld, die dem persönlichen Glück im Wege steht, die nur im Schweigen erträglich erscheint und doch schonungslos an die Oberfläche gezerrt wird. Das ist die berührende Hauptaussage des Films: Nichts zu wissen, kann wie ein Segen scheinen. Aber erzählt man die Geschichte eines Menschen nicht, werden beide, Geschichte und Mensch, viel zu bald nur noch eines sein: vergessen. Das wäre schlimmer als jeder Schmerz.