Dass auf dem Filmplakat die Erotik des Motivs – ein halb von Stoff verhüllter männlicher Unterleib – von der Eiseskälte der Farben konterkariert wird, umreißt recht genau, was man von „Shame“ zu erwarten hat: Wie viele Filme, denen wegen offenherziger Sexszenen der Ruch des Skandalösen anhaftet – von Bergmans „Das Schweigen“
(fd 12 486) über Verhoevens „Basic Instinct“
(fd 29 576) bis zu Catherine Breillats „Romance“
(fd 34 299) –, ist auch „Shame“ eigentlich nicht freizügig, geht es doch nicht um die lustvolle Darstellung, sondern um die Problematisierung von Sexualität. Für Brandon, die Hauptfigur, ist Sex kein Spaß, sondern eine Sucht, inklusive aller aufzehrenden, selbstzerstörerischen Tendenzen, die jeder Sucht innewohnen. Entsprechend ist „Shame“ kein erotischer, sondern (etwa wie das Alkoholiker-Drama „Leaving Las Vegas“, fd 31 893) ein schmerzhafter Film. Man begleitet eine Figur auf einer Abwärtsspirale, die gnadenlos auf einen existenziellen Tiefpunkt zusteuert. Gegen Ende zerreißt es Brandon geradezu, zwar nicht wortwörtlich, aber durch eine atemberaubende Montagesequenz.
Regisseur Steve McQueen hat den Film als Gegenstück zu seinem fulminanten Debüt „Hunger“
(fd 39 428) bezeichnet. In „Hunger“ ging es um einen Mann, der als IRA-Kämpfer im Gefängnis sitzt und der Haft zum Trotz seine Freiheit verteidigt, indem er sich durch einen Hungerstreik gegen das System, das ihn gefangen hält, auflehnt und sich ihm durch den selbst herbeigeführten Tod entzieht. In „Shame“ geht es um eine Figur, die als gut verdienender Yuppie in New York alle Freiheiten hat, sich aber mit ihrer Sex-Obsession selbst ein Gefängnis baut, das ihre Zeit auffrisst und soziale Beziehungen unmöglich macht. Wie „Hunger“ fesselt und verstört auch „Shame“, dies nicht zuletzt durch die Paradoxien, in denen McQueen und sein großartiger Hauptdarsteller Michael Fassbender die Personen ihr Heil suchen lassen: Verteidigt die Hauptfigur in „Hunger“ ihre Menschenwürde gegen die erniedrigenden Haftbedingungen im Gefängnis durch einen Akt der Selbstdestruktion, der in seinen körperlichen Folgen noch qualvoller ist als das, was ihr zuvor durch die Gefängniswärter angetan wurde, so stürzt sich Brandon mittels One-Nights-Stands, Sex mit Prostituierten und Pornos in exzessive körperliche Intimitäten, um sich andere, tiefer unter die Haut gehende Intimitäten vom Leib zu halten.
Erzählt wird dies nicht zuletzt über die Interaktion Brandons mit zwei Protagonistinnen, die im Lauf des Films in sein Leben treten. Da ist zum einen eine Arbeitskollegin, mit der er flirtet und sich zum Essen verabredet: ein zaghafter Versuch, eine Beziehung zu einer Frau herzustellen, die über schnellen Sex hinausgeht. Und da ist zum anderen Brandons jüngere Schwester, die sich als Sängerin gerade so über Wasser hält. Sie quartiert sich, seelisch angeschlagen nach einer gescheiterten Liebe, bei ihrem großen Bruder ein und fordert hartnäckig seine Zuwendung, was diesen hoffnungslos überfordert und zur Zerreißprobe wird – denn mit der Schwester, so wird angedeutet, aber klugerweise nicht erschöpfend erklärt, dringen in Brandons Festung aus Unverbindlichkeit Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit ein, die er nicht ertragen kann. Mit den beiden Frauen kommt es zu Szenen, die für Brandon wesentlich entblößender sind als jene, die ihn beim Sex zeigen. Höhepunkt ist eine grandiose Sequenz, in der er mit einem Arbeitskollegen seine Schwester zu einem Auftritt in eine Bar begleitet. Während sie eine traurig-zarte Blues-Version von „New York, New York“ zum Besten gibt, kommen ihrem Bruder die Tränen – eine emotionale Nacktheit, die für Brandon unendlich peinlich und peinvoll ist.
Genauso wenig wie sich „Hunger“ darin erschöpft, ein Drama über unmenschliche Haftbedingungen für IRA-Mitglieder und -Sympathisanten in britischen und nordirischen Gefängnissen zu sein, lässt sich „Shame“ reduzieren auf eine Anklage eines westlichen Lebensstils, der einerseits Sex weitgehend von Tabus befreit und frei verfügbar gemacht hat, andererseits aber der Anonymität und Isolierung des Einzelnen Vorschub leistet. Das ist sicher nicht falsch, greift aber zu kurz. Die Filme des Künstlers McQueen sind keine Fallbeispiele für gesellschaftskritische Thesen; sie sind keine Analysen und wollen den Zuschauer nicht zu Urteilen über die Figuren anhalten. Sie versetzen einen vielmehr ohne Sicherheitsabstand direkt in deren Kosmos hinein, sind ästhetisch verdichtete Erfahrungen, denen man sich aussetzen, die man erleben und fühlen muss. McQueen erzählt nicht nur eine Geschichte, er findet bewegte Bilder, die existenzielle Zustände wie Schmerz, Einsamkeit, Sehnsucht, Verzweiflung bezwingende filmische Gestalt annehmen lassen.