Ein Mann in einem Tigerkostüm schleicht durch ein großes, elegant eingerichte- tes Haus. Aus dem Ende des schwarz-orange gestreiften Tigerschwanzes ragt die Spitze eines Plastikpenis. Der Tiger ist auf der Jagd, und er wird verfolgt. Zuvor hatte er seine Mutter, die brasilianische Haushälterin, gefesselt und geknebelt. Jetzt sucht er nach einer jungen Frau, für die das Haus so etwas wie ein luxuriöses Gefängnis ist. Er vergewal- tigt sie, wird aber noch in Veras Bett vom herbeieilenden Hausbe- sitzer erschossen. Am Ende wird diese Vera in einem Second-Hand-Kleiderladen stehen und zwei völlig verstörten Frauen gestehen: „Ich bin Vicente, und ich musste zwei Menschen töten, um frei zu kommen.“
Auch in seinem 18. Film „Die Haut, in der ich wohne“ vermischt Pedro Almodóvar Unheimliches mit Groteskem, Thriller mit Melodram. Die Geschichte beruht auf dem 1984 erschienenen Roman „Tarantula“ des französischen Krimi-Autors Thierry Jonquet. Almodóvar ergänzt den Plot wie nebenbei mit barocken Einsprengseln und Figuren: mit dem Vergewaltiger im Tigerkostüm, der Ehefrau mit dem verbrannten Gesicht oder der brasilianische Haushälterin, meisterhaft dargestellt von Almodóvars alter Muse Marisa Paredes. Im Zentrum der verschach- telten und doppelbödigen Handlung steht der Schönheitschirurg Roberto, eine Art moderner Doktor Frankenstein, der auf unge-wöhnliche Weise Rache nehmen will für den Tod seiner Frau und seiner Tochter. Er hat über genetische Manipulation und gegen alle Grundlagen medizinischer Ethik eine unzerstörbare künstliche Haut geschaffen und hält in seiner luxuriösen Privatklinik in Toledo eine wunderschöne Frau gefangen, hinter der sich ein dunkles Geheimnis verbirgt.
Der Schauspieler Antonio Banderas ist mit den ersten Filmen Pedro Almodóvars weltbekannt geworden; die Zusammenarbeit endete, als Banderas nach Hollywood ging. Für „Die Haut, in der ich wohne“ sind die beiden wieder zusammen gekommen. Banderas verkörpert den rachsüchtigen Schönheitschirurgen distanziert und mit kalter Brillanz in einem Film über Rache, über kreative Energie und nicht zuletzt über die Liebe und sexuelle Identität. Alle Beziehungen in diesem Film sind zerstört, von dunklen Erinnerungen oder obskuren Macht- und Ohnmachtsverhältnissen geprägt. Die Haut ist Veras Schutz und ihr Gefängnis. Auch hier, wie in anderen Filmen Almodóvars, changieren die Protagonisten in ihrer Geschlechtlichkeit: Männer werden zu Frauen und Frauen zu Männern, und die Leidenschaften verursachen Verbre-chen. An der Seite von Antonio Banderas steht die junge spani-sche Schauspielerin Elena Anaya als Vera. Sie ist Täter und Opfer zugleich, verwirrt und voller Sehnsucht und an einer melancholischen Variante des Stockholm Syndroms erkrankt, bis hin zu ihrem definitiven Befreiungsschlag am Ende.
Auch wenn Almodóvar die kalte Grausamkeit und den lakoni-schen Sadismus der Romanvorlage entschärft, bleibt der neue Film doch sein kältester. Das liegt nicht nur an der zurückgenommenen Darstellung Antonio Banderas’, sondern auch an der kühlen Kamera, dem ganz besonderen Umgang mit dem Licht von José Luis Alcaine. Ein ganz wesentliches Element ist auch in diesem Film wieder die aufwühlende bis verfremdende Musik von Alberto Iglesias. Das Geheimnis der Filme Almodóvars liegt in einer geschickten Mischung ganz unterschiedlicher Elemente, der Dramatisierung durch Musik und Licht, der Verbindung von Anspielungen auf große Szenen der Filmgeschichte und spanischer Alltagskultur. Dabei gelingt dem Regisseur immer wieder die Gratwanderung zwischen Spannung, starken Gefühlen und, wenngleich immer seltener, komischen Momenten. Sein neuer Film ist nicht, wie so oft behauptet, ein Horrorfilm, beschreibt vielmehr den Horror der Einsamkeit. Almodóvar macht kein Genrekino nach festgelegten Formeln, wie so viele der jüngeren spanischen Regisseure. Er ist vielmehr längst ein eigenes Genre geworden und provoziert damit stürmische Begeisterung ebenso wie aggressive Ablehnung. „Die Haut, in der ich wohne“ wurde von großen Teilen der spanischen Filmkritik wütend verrissen, von anderen jedoch in den Himmel gehoben. Beim Publikum kommt der Film indes an und lockte in den spanischen Kinos zwischen Malaga und San Sebastián so viele Zuschauer an wie schon lange kein spanischer Film mehr.