Schlafkrankheit

Drama | Deutschland/Frankreich/Niederlande 2011 | 91 Minuten

Regie: Ulrich Köhler

Ein deutscher Entwicklungshelfer und Arzt, der seit fünf Jahren in Kamerun ein Projekt zur Bekämpfung der Schlafkrankheit betreut, kehrt wider Erwarten nicht zu seiner Familie nach Hessen zurück. Drei Jahre danach sucht ihn ein junger schwarzer Franzose auf, der als WHO-Mitarbeiter das Projekt des Arztes evaluieren soll, und stößt auf einen desillusionierten Mann ohne Lebensperspektive. Eine spröde, visuell atemberaubend präzise Erzählung über den Versuch, aus Bindungen auszubrechen. Der mäandernde Fluss aus Szenen und Bildern beschreibt den Schauplatz als unübersichtlichen (Lebens-)Raum und verknüpft die disparaten Fäden zum umfassenden individuellen wie auch sozialen und politischen "Befindlichkeitsbild". (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MALADIE DU SOMMEIL
Produktionsland
Deutschland/Frankreich/Niederlande
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Komplizen Film/Ö-Filmprod./Why Not Prod./IDTV Film/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
Regie
Ulrich Köhler
Buch
Ulrich Köhler
Kamera
Patrick Orth
Schnitt
Eva Könnemann · Katharina Wartena
Darsteller
Pierre Bokma (Ebbo Velten) · Jean-Christophe Folly (Alex Nzila) · Jenny Schily (Vera Velten) · Hippolyte Girardot (Gaspard Signa) · Maria Elise Miller (Helen Velten)
Länge
91 Minuten
Kinostart
23.06.2011
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Menschen, die aus ihrem Leben, ihren sozialen oder familiären Bindungen ausbrechen, ohne irgendwo anders anzukommen. Figuren von seltsam trotziger Müdigkeit und Lethargie, die irgendwie und irgendwann in einen Lebensentwurf hineingeraten sind, der ihnen nun die Luft abschnürt. Ein schweigsamer 19-jähriger Rekrut, der sich von der Truppe entfernt und sich im Bungalow seiner abwesenden Eltern in der hessischen Provinz verschanzt („Bungalow“, fd 35 810). Eine Ärztin, wortkarg und unzufrieden, die mit Mann und Tochter von Berlin nach Kassel zieht, um sich in einem abgelegenen Haus am Waldrand „neu einzurichten“ („Montag kommen die Fenster“, fd 37 868). Ein Entwicklungshelfer und Arzt, der seit fünf Jahren in Kamerun ein Projekt zur Bekämpfung der Schlafkrankheit betreut und nun vor seiner Rückkehr nach Deutschland steht. Seine Frau fliegt gemeinsam mit der Tochter einige Tage früher zurück; in einem nächtlichen Telefonat mit ihr fragt Ebbo, ob es denn nicht ausreiche, dass er sich auf sie freue. Eine rhetorisch gemeinte Frage, doch die Antwort, die man sich als Zuschauer gibt, lautet klar: Nein, es reicht nicht. Wo sollte dieser Ebbo denn hin? Zurück in jenes „ordentliche“, pittoresk gelegene Wetzlar in Mittelhessen, womöglich in eines dieser arrivierten, aber unbehausten Provinzhäuser mit Steilhanglage à la „Bungalow“? Oder gar in jenes Waldhaus, das am Montag neue Fenster bekommt? Dorthin, wo alles „eingerichtet“ ist, sicher und saturiert, getragen vom Wohlstand und dem Geist der „New Economy“? Ebbo sieht darin offensichtlich kein Ziel, vielleicht scheint er deshalb so antriebslos. Doch bietet ihm Afrika eine Perspektive? Wetzlar taucht in „Schlafkrankheit“ überhaupt nicht auf, auch gibt Ebbo so gut wie nichts von seinen Gedanken und Empfindungen preis. In den Filmen von Ulrich Köhler gibt es ohnehin nichts, das sich annähernd zu einer filmisch gängigen Figurenpsychologie verdichten würde – und doch kreiert Köhler auf faszinierende Weise eine immens hohe Informationsdichte, die einen zum genauen Beobachten anregt, (mit-)fabulieren, denken und assoziieren lässt. Drei lange Spielfilme hat er bislang gedreht, spröde, wortkarge, visuell aber atemberaubend präzise Erzählungen, die man sich geduldig und aufmerksam erarbeiten muss, um sie zu einem umfassenden sozialen und politischen „Befindlichkeitsbild“ zu verknüpfen. Da möchte man am Ende dann all das hinzufügen, was Köhler in seinen rigorosen elliptischen Narrationen auslässt und das doch so vielsagend mitschwingt. Geboren 1969 in Marburg, verbrachte er in seiner Kindheit mehrere Jahre in Zaire, dem heutigen Kongo, wo seine Eltern als Entwicklungshelfer arbeiteten; insofern gibt es einen deutlichen biografischen Bezug zu „Schlafkrankheit“, mithin auch eine „Erklärung“ – doch was nützt diese? Hilfreicher ist womöglich der ambitioniert gestaltete Vorspann des Films, der nur aus einer einzigen Schrifttafel besteht, auf der sich alle Credits in kleinsten Buchstaben aufbauen – Wort für Wort, Name für Name, wobei die ersten vier Begriffe, die erscheinen, Licht, Ton, Schnitt, FILM lauten. Daraufhin wird man in eine stockfinstere, geräuschvolle Nacht hineingeworfen, in der man sich nicht orientieren kann (was programmatisch für den Film bleiben wird): Im Scheinwerferlicht eines Autos rasen Lastwagen vorbei, bis eine Polizeisperre die Fahrenden stoppt. Doch es bleibt dunkel, im Lichtkegel der Taschenlampen sind nur Segmente zu erkennen. Der freundliche Satz eines Polizisten, auf dessen rituelles Spiel mit der Autorität sowie der Aussicht auf eine kleine Nebeneinkunft sich Ebbo, der Fahrer, einlässt, klingt wenig überzeugend: „Willkommen in Kamerun.“ Nur ausschnitthaft, oft tatsächlich nur im Lichtkegel einer Lampe, offenbart sich das zentralafrikanische Land fern vom jedem Foto-Exotismus als unübersichtlicher Raum: zunächst als diffuser urbaner Kosmos, in dem die Residenten gut bewacht hinter Zäunen leben, später als Urwald und unterschwellig bedrohliches Dickicht. Die Schlafkrankheit, jene Epidemie, die nicht zuletzt durch Ebbos Arbeit eingedämmt zu sein scheint und für deren Bekämpfung immer noch hohe Geldmittel ins Land fließen, wird zum Struktur gebenden Sinnbild des Films, der wie sie in drei (paritätisch exakt gedrittelten) Stadien verläuft: Nach der „Infektion“ kommt es zu heftigen Symptomen, bevor im zweiten Stadium das Nervensystem angegriffen wird und Verwirrtheit, Koordinations- und Schlafstörungen auftreten, bis es im Endstadium zu jenem Dämmerzustand kommt, der der Krankheit bzw. dem Film den Namen gegeben hat. Zwischen die ersten beiden „Stadien“ legt Köhler ein Stück Schwarzfilm, um danach die Erzählperspektive radikal auf eine andere Person zu verlagern und Ebbo vorübergehend gänzlich aus dem Blick zu verlieren: Der junge schwarze WHO-Mitarbeiter Alex aus Paris, der auf seiner allerersten Afrika-Reise Ebbos Arbeit evaluieren soll, wird zur Identifikationsfigur auf dem Weg ins Herz der Finsternis; mit ihr verliert man gänzlich jede Orientierung und weiß bald nicht mehr, was bedrohlicher ist: das unbekannte Land oder aber die Projektionen davon, die man im Kopf mit sich trägt. Fatalerweise verrät ein Insert (das in der „Berlinale“-Kopie des Films noch fehlte), dass drei Jahre seit der ersten Begegnung mit Ebbo vergangen sind – ohne dieses Wissen, das sich später, im letzten Filmdrittel ohnehin aus einem Dialog erschließt, wäre die Verwirrtheit noch nachhaltiger. Wenn man dann über Alex auch Ebbo wieder begegnet, erschrickt man über den müden, oft unbeherrscht reagierenden, zynischen Mann; zunächst hatte man ihn lebendig vor sich gesehen, „so lebendig, wie er nur je gewesen – ein Schatten, der unersättlich nach furchtbarer Wirklichkeit lechzte“, wie es einmal in Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“ heißt, an den man immer wieder denken muss. Bis zum Schluss bleiben zwar Ebbos Handlungen und Haltungen ambivalent und behält der Film seinen flirrenden Schwebezustand; doch man erinnert sich längst an Ebbos frühe Erzählung vom rätselhaften Verschwinden eines Mannes, der am Ende er selbst sein könnte: Ist er tot oder verwandelte er sich in ein Flusspferd?
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