Die blonden Puppenlocken und das brave blaue Kleidchen täuschen: Lewis Carrolls „Alice“ ist längst als rebellische, antibürgerliche Heldin enttarnt, und das nicht erst, seit in den 1960er-Jahren Parallelen zwischen ihren Abenteuern und LSD-Trips ausgemacht wurden. Schon die Surrealisten beriefen sich auf Carrolls karnevaleske Verkehrung gesellschaftlicher Konventionen, seine Sprachspiele erschienen wie Vorboten des Dadaismus. Tim Burton würdigt diese Tradition, indem er seine Alice – kein kleines Mädchen mehr, sondern eine junge Frau – als Regelbrecherin einführt, die sich nicht ins gesellschaftliche Korsett zwängen lassen will. Auf einer vornehmen Gartenparty entzieht sie sich der Verlobung mit einer „guten Partie“.
Burton und „Alice“: Das hätte eine traumhafte, unkonventionelle Liaison werden können. Ob es am Einfluss der Disney Studios lag, dass daraus doch nur eine eher biedere Verbindung geworden ist? Jedenfalls wirkt das Ergebnis wie ein unausgegorener Kompromiss zwischen Burton- und Disney-Stil. So unterspülen einerseits makabre Elemente die Familientauglichkeit – wenn etwa ein Auge ausgestochen wird oder abgeschlagene Köpfe im Burggraben schwimmen –, andererseits wirkt der Popsong zum Finale nach dem stimmigen Danny-Elfman-Score wie ein nerviges Zugeständnis ans Hannah-Montana-Klientel.
Dabei hat Burtons 3D-Version von Carrolls „Wunderland“ durchaus ihre Meriten. Diese liegen vor allem im Bereich des Set- und Character-Designs, die sich liebe- und fantasievoll den Geist der literarischen Vorlage zu eigen machen. Die listig-enigmatische Grinsekatze, die sich aus dem Nichts in der Luft materialisieren und wieder in eine anmutige Rauchfahne auflösen kann, hat bezaubernde meergrüne Kulleraugen – aber ihr notorisches Lächeln entblößt eine beeindruckende Reihe spitzer Zähne. Die Weiße Königin hat bei aller vornehmen Blässe und blasiert-fahrigen Gestik einen so dunkel geschminkten Mund und dermaßen umschattete Augen, dass dies auf eine verborgene düstere Seite zu verweisen scheint. Ihre Schwester hingegen, die Herzkönigin, die liebend gern andere Leute einen Kopf kürzer macht, sieht mit ihrem riesigen Ballonkopf und ihrem Kussmund ganz niedlich aus, wenn sie ihre Füßchen auf einem warmen Schweinebauch ausruht. Ein Narnia oder Mittelerde, wo es Gute und Böse gibt und diese meist an ihrer Schönheit bzw. Niedlichkeit oder Hässlichkeit als solche erkennbar sind, ist Carrolls Wunderland nicht. Da mag im zweiten Band, „Alice hinter den Spiegeln“, eine Schachpartie mit schwarzen und weißen Feldern eine wichtige Rolle spielen – trotzdem gibt es keine Schwarz-Weiß-Malereien, sondern allerhand Merkwürdigkeiten und Skurrilitäten, denen Alice bei ihrer Erkundung der mal lustigen, mal beängstigenden, immer aber chaotischen Welt begegnet. Burton hat sich dies in der Gestaltung von Figuren und Schauplätzen zu eigen gemacht. Allerdings kann die erzählerische Fantasie da nicht mithalten: Die Story macht aus der anarchistischen Schachpartie der Vorlage eine relativ geradlinige, sogar abgedroschene „Heroic Fantasy“-Geschichte à la „Die Chroniken von Narnia“
(fd 37 389): Alice ist die von einer Prophezeiung angekündigte Befreierin, die das geknechtete Wunderland aus den Händen der bösen Roten Königin retten und der Weißen Königin die Krone wieder erringen soll. Nun muss Alice, die nicht weiß, ob sie wacht oder träumt, nur noch in die ihr vorherbestimmte Rolle hinein wachsen, was ihr dank ihrer Verbündeten im Wunderland schließlich auch gelingt.
Dramaturgisch gesehen, mündet dieses Spiel in eine Patt-Situation: Da sich die Skurrilität der Figuren nicht so recht in den klassischen Konfrontationskurs von Gut und Böse fügen will, fehlt es diesem an der nötigen emotionalen Wucht, um die Zuschauer mitzureißen; zugleich aber wird dem klassischen Plot-Muster auf weite Strecken die surreal-sinnreiche Unsinnigkeit von Carrolls Spiegelwelt geopfert. Deren karnevaleske Komik blitzt nur am Rand auf, wenn z.B. Johnny Depp als verrückter Hutmacher die Szene betritt, paradoxerweise aber auch gerade in jenen Szenen, die in der Rahmenhandlung in der realen Welt angesiedelt sind. Die Art und Weise, wie die viktorianische Gesellschaft zu Beginn porträtiert wird, offenbart jenen treffsicheren, karikierenden Witz, den man später, wenn Alice der unliebsamen Verlobung durch den Sturz in den Kaninchenbau entgangen und im Wunderland gelandet ist, oft vermisst. So ist „Alice im Wunderland“ dank des Erfindungsreichtums seiner Designer im wahren Wortsinn sehenswert – Spannendes oder gar Neues über die Rebellin Alice hat Tim Burton aber nicht zu erzählen.