Der unbestimmte Artikel im Filmtitel gibt sich viel zu bescheiden, denn hier geht es nicht um irgendeinen Sommer, sondern um die letzten Monate im Leben von Leo Tolstoi (1828–1910), der durch seinen historischen Roman „Krieg und Frieden“ und natürlich durch „Anna Karenina“ einen enormen Einfluss auf die Literatur der nachfolgenden Generationen ausübte. Der englische Originaltitel ist bei der zeitlichen und örtlichen Einordnung etwas hilfreicher: „The Last Station“ geht auf die Tatsache zurück, dass Tolstoi am 20. November 1910 im Bahnhof von Astapowo starb. Zuvor hatte er seine Familie und seine Anhänger verlassen, um in der Einsamkeit zu leben.
Der Film von Michael Hoffman („Tage wie dieser“, fd 32 520), der auch das Drehbuch schrieb, beruht auf dem Roman „Tolstois letztes Jahr“ von Jay Parini. Parini machte sich den Umstand zunutze, dass mehrere Menschen in Tolstois Umfeld Tagebücher schrieben und ihre Version der Ereignisse berichteten. Die Struktur des Romans, der aus sechs Perspektiven erzählt ist, musste für den Film gestrafft und vereinfacht werden. Hoffman gelang es jedoch, die Essenz der Vorlage herauszufiltern, geht es doch um die komplexen Beziehungen zwischen Tolstoi und seinem Umfeld, aber auch um sein literarisches Erbe, das dem russischen Volk, also der Allgemeinheit, zugute kommen soll. Der Film beginnt mit der Ankunft von Tolstois neuem Sekretär Walentin Bulgakow auf Jasnaja Poljana, dem Landsitz des Schriftstellers. Schon das Einstellungsgespräch mit Wladimir Tschertkow, Tolstois engstem Vertrautem, verläuft irritierend: Der junge Mann soll Tolstoi und seine Ehefrau Sofia ausspionieren und dann Tschertkow Bericht erstatten. Sofia ist seit 48 Jahren mit Tolstoi verheiratet, sie hat ihm 13 Kinder geboren und sechs Mal „Krieg und Frieden“ handschriftlich kopiert. Nun besteht sie vehement darauf, dass die Rechte an seinen Romanen ihr und der Familie zufallen. Tschertkow hingegen, ein ebenso ernsthafter wie intriganter Tolstoianer, hat hinter Sofias Rücken den alten Mann dazu überredet, die Rechte freizugeben. Entschieden ist jedoch noch nichts, und so kämpft Sofia wie eine Furie um ihren Vorteil. Auch sie spannt Bulgakow für ihre Zwecke ein. Plötzlich sitzt der junge Mann zwischen allen Stühlen. Der Streit, mit heftigen Bandagen ausgetragen, vergiftet die Atmosphäre auf Jasnaja Poljana; nach fast 50 Jahren scheint die Ehe der Tolstois am Ende. Als konträre Spiegelung zu dieser Krise fungiert Bulgakow, der erstmals der Liebe begegnet – in Gestalt der schönen, selbstbewussten Lehrerin Mascha. Tolstoi hingegen entzieht sich den Querelen, in dem er seinen Landsitz verlässt und noch einmal auf Reisen geht. Doch eine Lungenentzündung zwingt ihn, in Astapowo auszusteigen und, da es nirgendwo ein Hotel gibt, beim Bahnhofsvorsteher zu wohnen.
„Ein russischer Sommer“ ist das, was man als „großes Schauspielerkino“ bezeichnet. Im Zentrum steht das Duell zwischen Christopher Plummer und Helen Mirren mit all seinen Attacken, Rückzügen und kleinen Versöhnungen. Besonders Mirren reißt von Beginn an jede Szene mit Verve an sich und versinkt förmlich in ihrer Rolle. In einer Mischung aus Wärme und Anmaßung, großer Geste und Zynismus scheint sie das genaue Gegenteil von Tolstoi zu verkörpern. Beklemmend auch ihre Kleinkriege mit Tschertkow, dem Paul Giamatti mit hinterhältiger Unterwürfigkeit und machtbewusstem Ehrgeiz Ausdruck verleiht. Christopher Plummer, zur Drehzeit fast genauso alt wie Tolstoi kurz vor dessen Tod, strahlt eine charismatische Größe aus, die zwischen moralischem Pathos und gelassener Ruhe changiert. Obwohl Plummer sehr viel verhaltener spielt als Mirren, begegnen sie sich doch auf Augenhöhe. Neben diesen schauspielerischen Glanzleistungen verblassen die der anderen Darsteller zwangsläufig.
Ein wichtiger Aspekt des Films ist die sektenartige Entourage von Anhängern, die Tolstoi ständig umgab, auch in Jasnaja Poljana. Da sind vor allem die Tolstoianer, angeführt von Tschertkow, die Tolstoi nicht nur als Schriftsteller verehren, sondern auch als geistigen Führer, der Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit predigt. Themen, die in wortreichen Dialogen ausformuliert und diskutiert werden. Darüber hinaus wurde Tolstoi, zu seiner Zeit wohl der berühmteste Russe, von Journalisten, Fotografen und Kameraleuten verfolgt, die jedes gesprochene Wort notierten und jeden seiner Schritte dokumentierten. Besonders die Szenen im Bahnhof von Astapowo nehmen mit ihrem Medienrummel die Sensationsgier und den Starkult von heute vorweg.
Historiendrama, Filmbiografie, Literaturverfilmung, Liebesgeschichte: Hoffman greift in seinem Drehbuch detailliert die vielschichtigen Facetten der Vorlage auf und führt sie stringent zusammen. Sein Film besticht darüber hinaus durch sorgfältiges Production Design und sanfte, in fahles Licht getauchte Landschaftsaufnahmen, die eine kontrastreiche Folie für die Gefühlsausbrüche der Protagonisten bilden.