Kompilationsfilm aus vier Beiträgen, die sich mit der Beschleunigung der Lebenswelt auseinander setzen. Drei der Filme bohren zwar nicht allzu tief, liefern dennoch unterhaltsame, auch zum Nachdenken anregende Einblicke in die "Suche nach der verlorenen Zeit". Rainer Komers' eindrucksvoller Essayfilm "Milltown, Montana" erzählt hingegen in erhellenden, hypnotisch klaren Bildern von der schleichenden Metamorphose einer amerikanischen Kleinstadt und den damit verbundenen Erosionen des Lebens. Titel der Filme: 1 "Milltown, Montana" (Dt. 2009, 34 Min.); 2. "I Love My Boring Life" (Tschechien 2009, 26 Min.); 3. "Time's Up" (Dt. 2009, 15 Min.); "Es wird einmal gewesen sein" (Dt. 2009, 28 Min.)
- Ab 16.
Breathless - Dominance of the Moment
- | Deutschland/Tschechien 2009 | 103 Minuten
Regie: Rainer Komers
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- BREATHLESS - DOMINANCE OF THE MOMENT
- Produktionsland
- Deutschland/Tschechien
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Kloos & Co. Medien/Endorfilm
- Regie
- Rainer Komers · Jan Gogola · Marie-Catherine Theiler · Jan Peters · Anca Miruna Lazarescu
- Kamera
- Rainer Komers · Jirí Zykmund · Marie-Catherine Theiler · Jan Peters · Tobias Tempel
- Musik
- Pit Przygodda · Friedrich Wohlfarth
- Schnitt
- Bert Schmidt · Zdenek Marek · Sandra Trostel · Uwe Wrobel
- Länge
- 103 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Informationsüberschuss, Zeitdruck und Stress gehören zu den Grundfaktoren unserer schönen neuen, ökonomisch beschleunigten Welt. Stillstand ist Tabu, Innehalten grenzt an Leistungsverweigerung. Die Zeit scheint im Takt des digitalen Fortschritts zu rasen. Kaum ein Lebensbereich, der nicht effizienter, billiger, optimaler und schneller werden soll. Aber sind wir es nicht selbst, die immer mehr aufs Pedal drücken, weil wir mit dem Tempowahn Schritt halten wollen? Kein Wunder, dass sich neuerdings auf den Bestsellerlisten Ratgeber über Selbstoptimierung häufen und Kurse im Zeitmanagement zum obligaten Repertoire aktueller Biografien gehören. Der Faszination der Beschleunigungskultur sind auch Marie-Catherine Theiler und Jan Peters erlegen. In ihrem humorvollen Kurzfilm „Time’s Up“ begeben sie sich im Selbstversuch auf die Suche nach der verlorenen Zeit. In der Ausnahmesituation eines Autounfalls werden sie mit der Endlichkeit ihrer Existenz konfrontiert. Die werdende Mutter und ihr Lebenspartner kommen mit dem Schock davon, aber das hektische Leben zwischen Deadlines und To-Do-Listen muss nun ein Ende haben, Ruhe und Langsamkeit sollen wieder in den Alltag einkehren. Aber wie gewinnt man Zeit, um Zeit zu sparen? Während der neun Schwangerschaftsmonate besuchen die Filmemacher Zeitexperten aller Art, ordnen ihr Leben nicht nach Tagen, sondern nach Themen, besuchen Relativitätstheorie-Spezialisten, Entschleunigungs-Workshops oder kuriose Vorträge der deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, womit sie unversehens in die Fußstapfen von Woody Allens Stadtneurotiker geraten. Je mehr sie in ihrem filmischen Tagebuch die Zeit anzuhalten versuchen, desto mehr entkommt sie ihnen, bis die Geburt des Nachwuchses endlich die Erlösung vom vergeblichen Grübeln bringt.
„Time’s Up“ ist eine von vier Betrachtungsweisen auf das Phänomen der veränderten Zeitwahrnehmung, die im Rahmen eines deutsch-tschechischen Episodenfilmprojekts „Breathless – Dominance of the Moment“ entstanden sind. Das Dokumentarfilminstitut in Prag (IDF), DOK Leipzig und Zipp – deutsch-tschechische Kulturprojekte fungierten als Initiatoren. Wer notorisch unter Zeitknappheit leidet, dem sei diese erfreulich unterhaltsame Kompilation empfohlen, auch wenn sie inhaltlich nicht allzu tief bohrt – aber das wäre dann vermutlich auch nicht entspannend genug. Mit Ausnahme von Rainer Komers, der in bewährter Manier erhellende Beobachtungen von Orten liefert, die sich in einer kaum merklichen Metamorphose befinden. Diesmal verschlägt es ihn mit seinem Essayfilm „Milltown, Montana“ in die USA. Ohne Kommentar und O-Töne, dafür in hypnotisierend klaren Bildern, erzählt er die Geschichte einer Kleinstadt, die in ihren besseren Zeiten zum größten Bergbaugebiet der USA gehörte. Die Kehrseite war die über Jahrzehnte fortgesetzte Kontaminierung des Bodens mit Giften und Schwermetallen. Um das Gelände zu renaturieren, wird jetzt der Giftschlamm abgetragen, die Natur bekommt eine Erholungsphase verordnet. Auf den Weiden finden sich wieder Rinder, Büffel und Pferde. Noch ist das Leben ruhig, zieht aber zunehmend Großstädter von außerhalb an, die in Wohnanlagen und Golfplätze investieren. Komers’ Blick betört durch die stoische Ruhe, mit der er die Landschaft und die sich verändernde Sozialstruktur ihrer Bewohner einfängt. Sie fühlen sich hier trotz aller Zerstörung, postindustrieller Tristesse und drohendem Ausverkauf zu Hause: Arbeiter in einem Silizium-Werk, alte Bergmänner und ihre Enkel, die angefeuert von den Frauen in einem Bergbauwettbewerb ihr Bestes geben, Rinderzüchter, Indianer und Golfer, die den schlummernden Takt vergangener Zeiten wiederentdecken.
Skurril kommt der tschechische Beitrag „I Love My Boring Life“ von Jan Gogola daher. Langeweile, Müßiggang und Nichtstun erfreuen sich im Kontext der allgegenwärtigen Atemlosigkeit bekanntlich einer Aufwertung. Vielleicht ist das auch der Grund, warum man so gerne in Großmutter Nemcovás nur auf den ersten Blick langweiliges Tagebuch eintaucht, in dem täglich von besänftigenden Ritualen die Rede ist. Das Wetter, die Träume, der Frühsport, die Speisen werden im Fluss der Zeit mit einer unaufgeregten Off-Stimme festgehalten. Fünf Jahre vergehen so in einem Rhythmus, der keine begrenzenden Ereignisse kennt. Die einzigen Eindringlinge sind Radio- und Fernsehnachrichten, die von Katastrophen, Unfällen und Kriegen rund um den Globus berichten. Großmutter Nemcová sind diese Informationen Anlass für philosophische und religiöse Fragestellungen. Mal gibt sie sich esoterisch angehaucht, mal rational abgeklärt. Die diskrete Kamera durchstreift mit ihrer manisch reflektierenden Heldin das große Haus in einem Vorort von Prag, registriert das Treiben der Töchter und Enkel, den Wechsel der Jahreszeiten und die kleinsten Bewegungen der Nachbarn. Das Ergebnis ist eine erstaunlich kurzweilige Familienchronik, die aus Trotz gegenüber dem um sich greifenden Nützlichkeitsdenken keine noch so abwegigen Sujets scheut.
Das Schwärmen über die befreiende Kraft der Langsamkeit treibt der letzte Beitrag „Es wird einmal gewesen sein“ auf die Spitze. Das Denken in Superlativen hat der Kurzfilm zwar immer noch nicht abgestellt, dafür aber verdient die generationenübergreifende Konsequenz des Unternehmens schlicht Respekt. Es geht um nichts weniger als das längste Musikstück der Welt, das in einer kleinen Kirche im ostdeutschen Halberstadt Tag und Nacht ohne Unterbrechung bis zum Jahr 2640 erklingen soll. Es stammt vom Avantgarde-Komponisten John Cage, trägt den kryptischen Titel „2 ASLSP“ und ertönt bereits probeweise durch die alten Gemäuer. Dass die einzige Anweisung, es solle bitte so langsam wie möglich gespielt werden, lautet, verwundert nicht weiter. Und ebenso wenig auch, dass die Meinungen der Veranstalter auseinander gehen, wie das Jahrhundertwerk organisatorisch zu bewältigen sei. Zeit zum Nachdenken ist ja im Übermaß vorhanden.
Kommentar verfassen