Essayistisch-kunstsinniger Dokumentarfilm über das Ruhrgebiet, der in wenigen langen Einstellungen bezeichnende (Stadt-)Landschaften, Straßenbilder und Ansichten von Industrieanlagen festhält. Durch die große Ruhe der statischen Einstellungen, die das Verstreichen der Zeit spürbar machen, eröffnet sich ein nahezu meditativer Raum des Schauens und Reflektierens über eine im Wandel begriffene Region, ihre Eigenheiten wie ihre eigentümliche Schönheit.
- Sehenswert ab 16.
Ruhr
Dokumentarfilm | Deutschland 2009 | 122 Minuten
Regie: James Benning
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- schaf oder scharf film/Zorana Musikic/ZDF/3sat
- Regie
- James Benning
- Buch
- James Benning
- Kamera
- James Benning
- Schnitt
- James Benning
- Länge
- 122 Minuten
- Kinostart
- 26.08.2010
- Fsk
- ab 0 (DVD)
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm | Experimentalfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Erschienen als Doppel-DVD zusammen mit dem Film "Natural History". Die Extras umfassen u.a. den Dokumentarfilm "James Benning: Circling the Image" (WDR, 2003) über den Filmemacher und seine Produktion "13 Lakes", ein informatives Booklet (28 Seiten) und Bennings "Viennale"-Trailer "Fire & Rain" (2009, 1 Min.). Die DVD ist mit dem Silberling 2014 ausgezeichnet.
Diskussion
Sechs je zehnminütige und eine einstündige statische Einstellung, die scheinbar in Echtzeit und in unregelmäßigen Abständen einen Tag lang eine Industrieanlage beobachten. Gelbe bis bedrohlich grau-schwarze Schwaden voller Wasserdampf quillen aus dem Kühlturm einer Kokerei, bis sie das ganze Bild füllen und man sich mit fortschreitenden Dauer kaum satt sehen kann. Lauter außergewöhnlich lange Einstellungen, in denen die Wirklichkeit beiläufig in ihrem Ist-Zustand eingefangen wird und die eine stark kontemplative Wirkung haben. Als stilistische Ingredienzien eines Essayfilmers sind sie im neuen, erstmals außerhalb der USA und digital gedrehten Werk von James Benning abermals zu bestaunen.
Seit einigen Jahren ist Benning Stammgast der Duisburger Filmwoche, die ihn anlässlich des „Ruhr 2010“-Programms für eine Auftragsproduktion gewinnen konnte. Der Film ist eine Hommage an eine postindustrielle Region im Wandel, ein minimalistisches Doku-Schauspiel mit visuellem Hintersinn, das sich trotz des für Benning fremden Sujets erstaunlich kohärent in das Werk des amerikanischen Avantgardisten einreiht. Denn Benning pflegt seit 38 Jahren eine besondere Beziehung zu amerikanischen Landschaften, die er als One-Man-Team in langen, von der Fotografie geprägten Single Shots mit einem meditativen Blick auf die Natur und die Eingriffe des Menschen erkundet. Im 16mm-Format, sorgsam kadriert, unspektakulär, aber aufschlussreich und geradezu packend, sofern man sich diesen audiovisuellen Séancen aussetzt. Im Verbund mit den örtlichen Tonkulissen versetzen sie den Zuschauer in den Zustand reinen Schauens und bescheren ihm in einem Gefüge aus Raum und Zeit introspektive Erkenntnisse über die Wesenheit der Dinge. Eine Art Phänomenologie von Orten in ihrem Da-Sein, gespeist aus der Strenge formaler Mittel, die Nähe durch Distanz schaffen. Sie entfalten ein Eigenleben und offenbaren sich so in ihrem Wesen. Noch bevor das erste Auto durch einen Tunnel in Duisburg fährt, beansprucht eine Beleuchtung in Zickzack-Form die ganze Aufmerksamkeit, die einem Blitz gleich durch den kahlen, abweisenden Tunnel aus grauem Beton schlingert. Eine einprägsame Eröffnung, die auf den unwirtlichen Ort einstimmt und mit dem Zickzackkurs eines Papierfetzens korrespondiert, der durch vorbeifahrende Autos hin- und hergeweht und dann an den Bildrand gedrückt wird. Ein für Benning typisches Bild der Vergänglichkeit, das in der nächsten Einstellung von ruckelnden Bändern und glühendem Eisen abgelöst wird beim mechanischen Fertigungsprozess in einem Walzwerk. Eine gewaltige Produktionsanlage einer untergehenden Industrie; eine menschenleere, geradezu mythische Schmiede mit einem Soundtrack, der sich zu einer Sinfonie aus Zischen, Tosen und Grollen verdichtet. Vier weitere Szenenwechsel folgen: ein regungsloser Wald, Sinnbild der Ruhe, dessen Bäume im Widerspiel von Natur und Zivilisation erzittern, als ein Flugzeug den Düsseldorfer Flughafen ansteuert und explosive Luftvibrationen auslöst; Richard Serras monumentale Stahlskulptur „Bramme für das Ruhrgebiet“ auf der Essener Schurenbachhalde als industriekulturelle Landmark, an der mit einem Hochdruckreiniger Graffitis entfernt werden; Rückenansichten beim Freitagsgebet in der Moschee von Duisburg-Marxloh; die kleine, ausgestorbene Seitenstraße in einer Essener Arbeitersiedlung, in der nach einer Weile eine Frau mit Hund zu erspähen ist. Nach einer Stunde folgt dann „Teil II“ – der Kühlturm einer Kokerei und sein sich für die verbleibenden 60 Minuten entladendes Innenleben. Ein Schlot in leichter Untersicht, aus dessen oberer Öffnung und den seitlichen Ritzen immer wieder Unmengen an Dampf entweichen, bis sie sich nach finaler Eruption verflüchtigen und das Schauspiel vom Neuen beginnen kann. Der Dampf nimmt im Verlauf des Tages ständig andere Farben an. Bilder, die Zeit brauchen, um sich zu entfalten; die, wenn man sie auf sich wirken lässt, Assoziationen und ein unmittelbares Erleben des Betrachters in Gang setzen. Transformiert in ein Kunstwerk, strahlen die fokussierten Dinge eine eigentümliche Schönheit aus, die im Kontrast zur realen industriellen Landschaft steht, die Benning im Ruhrgebiet aus der Distanz stoisch filmt. Vor der für gewöhnlich tristen Ruhrpott-Kulisse eine überraschende Einsicht, die sich Bennings überwältigendem Panoramawerk verdankt.
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