Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte

Dokumentarfilm | USA 2009 | 127 Minuten

Regie: Michael Moore

Dokumentarfilm von Michael Moore, der das Wirtschaftssystem der USA angreift und das immer extremere Auseinanderklaffen der sozialen Schere zwischen Arm und Reich anhand aktueller sozialer Ungerechtigkeiten im Zuge der weltweiten Finanzkrise, aber auch im Blick auf ökonomische und politische Entwicklungen seit den 1960er-Jahren anprangert. Der Filmemacher präsentiert seine polemische Kritik einmal mehr als Mischung aus Interviews, Reportage, populistischer Satire und Sentiment, ohne allerdings eine überzeugende Argumentationslinie zu finden. Eher oberflächlich bleibt so auch der Optimismus, in den der Film mit Blick auf den Regierungswechsel hin zu Präsident Obama mündet. (O.m.d.U.) - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
CAPITALISM: A LOVE STORY
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Dog Eat Dog Films/Overture Films/Paramount Vantage
Regie
Michael Moore
Buch
Michael Moore
Kamera
Daniel Marracino · Jayme Roy
Musik
Jeff Gibbs
Schnitt
Jessica Brunetto · Alex Meillier · Tanya Ager Meillier · Conor O'Neill · Pablo Proenza
Länge
127 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
Concorde (16:9, 1.78:1, DD5.1 engl./dt.)
DVD kaufen

Diskussion
„Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“ gipfelt darin, dass Michael Moore aus dem Off nichts Geringeres fordert als die Abschaffung des Kapitalismus. Als Alternativmodell führt er freilich im nächsten Atemzug „Demokratie“ ins Feld, sodass klar ist, dass er mit der Forderung kaum die Sozialisierung der Produktionsmittel im Sinn haben kann. Aus den Worten von Experten und Politikern, die er zuvor zustimmend zu Wort kommen ließ, ist vielmehr zu schließen, dass dem Filmemacher wohl eine klassisch sozialdemokratische Politik vorschwebt: Wenn es nach ihm ginge, würden die USA, so darf man annehmen, eine sorgfältige demokratische Kontrolle des Markts mit einem robusten sozialen Netz kombinieren, um den Interessen von Armen und unterer Mittelschicht stärkeres Gewicht zu verleihen. Der Dokumentarfilm, der in gewohnter Manier, aber weniger inspiriert als „Bowling for Columbine“ (fd 35693) und „Fahrenheit 9/11“ (fd 36596), Interviews und Reportage mit populistischer Satire und Sentiment verbindet, knüpft an Themen und Motive an, die Moore schon 1989 in „Roger & Me“ (fd 28254) berührte, und spielt sogar einen Ausschnitt aus dem Erstlingswerk ein. Wenn verzweifelte Habenichtse aus ihren Wohnungen geworfen werden, ist das diesmal allerdings nicht Resultat des Zusammenbruchs der Autoindustrie in Moores Heimatstadt, sondern der landesweiten Immobilienkrise. Während er sich in seinem Debütfilm erfolglos um ein Gespräch mit dem Boss von General Motors bemühte, gibt er diesmal bei kabarettistischen Aktionen auf der Wall Street vor, die Schuldigen der aktuellen Finanzkrise dingfest machen zu wollen. Vor allem streut er wieder private Super8-Aufnahmen aus seiner Kindheit ein, um in Erinnerung zu rufen, dass der Lohn eines US-Industriearbeiters, wie sein Vater einer war, einst bescheidenen Wohlstand erlaubte. Die These des Films ließe sich verkürzt so zusammenfassen, dass eben diese Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum durch die Politik Ronald Reagans gezielt untergraben worden sei, damit Unternehmer Profite maximieren und, nebenbei, die Gewerkschaften geschwächt werden konnten. Der fanatische Glauben an den freien Markt habe schließlich in die aktuelle Finanzkrise geführt, woraufhin die Wirtschaftselite, dank ihres gewachsenen politischen Einflusses, den US-Kongress geradezu im Staatsstreich zu bedingungslosen Finanzspritzen genötigt habe. Moore stützt die erste Hälfte dieser These mit einer schnellen, effektiven Schnittfolge bekannter, aber stets von Neuem deprimierender Statistiken. Vor allem verweist er in kurzen Episoden auf haarsträubende Auswüchse ungehemmter Profitgier – vom absurd niedrigen Gehalt, das Piloten regionaler Airlines verdienen, bis zu der (inzwischen weitgehend eingestellten) Praxis, die Firmen im Fall des Todes eines Angestellten von heimlich abgeschlossenen Lebensversicherungen profitieren ließ. Weil Moore dabei, wie gewohnt, vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt, ist die Relevanz dieser Beispiele für seinen Argumentationsgang freilich nicht immer klar. Zwischendurch streift die Handlung Punkte, die sich als Stoff für einen ganzen Film anböten. Wenn der Filmemacher seinen katholischen Pfarrer sowie dessen Erzbischof um eine moralische Bewertung des Kapitalismus bittet, werfen deren unverblümte Antworten (die nach radikaleren Umwälzungen verlangen, als sie Moore vorschweben) einmal mehr die Frage auf, warum die in den USA tonangebenden, konservativ-protestantischen Kirchen sich scheinbar problemlos mit blinder Marktgläubigkeit arrangieren. Aber Moore fehlt die Geduld, um solch einen Aspekt gründlicher zu beleuchten als mit einem satirisch nachsynchronisierten Ausschnitt aus einem erbaulichen Bibelfilm. Weil er ein Meister darin ist, die mediale Selbstdarstellung von Politikern und Showmännern gegen diese zu kehren, überrascht allerdings, dass er sich hier die Gelegenheit entgehen lässt, die Hohepriester des ungezügelten Markts, die in den US-Medien immer noch omnipräsent sind, aufs Korn zu nehmen. Doch Beispiele unbekümmert fortgesetzter Marktpropaganda würden wohl dem vagen Optimismus, den der Filmemacher an den Tag legt, den Wind aus den Segeln nehmen. Damit wäre man wieder beim eingangs angedeuteten Grundwiderspruch: Obwohl Moore Obamas wirtschaftspolitischem Chefberater und dem amtierenden Finanzminister eine gehörige Mitschuld an der fatalen Deregulierung der Banken als auch an der anschließenden bedingungslosen Vergabe staatlicher Finanzspritzen zuschreibt, enthält er sich auffallend jeder Kritik am aktuellen Präsidenten. Offenbar hofft er noch, dass Obama in die Fußstapfen Franklin D. Roosevelts treten könnte, den man in einem verschollen geglaubten Filmausschnitt einen weit reichenden Sozialstaat vorschlagen sieht. Die politische Debatte, die in Amerika seit Monaten von der Gesundheitspolitik beherrscht wird, müsste Moores Optimismus freilich einen deutlichen Dämpfer versetzt haben, denn der Verlauf dieser Debatte beweist drastisch, wie marginal sein Einfluss auf den öffentlichen Diskurs ist: Kein einziger Entscheidungsträger der neuen demokratischen Mehrheit hat sich die in „Sicko“ implizit vorgetragene Forderung zu eigen gemacht, das kanadische oder europäische Modell einer staatlichen Gesundheitsversorgung zu übernehmen. Wahrscheinlich ahnt Moore längst, dass auch Obama seine Hoffnungen nicht erfüllen wird. Den koketten Ruf nach einer Abschaffung des Kapitalismus muss man daher wohl schlicht als Pfeifen im dunklen Wald begreifen.
Kommentar verfassen

Kommentieren