Das Summen der Insekten - Bericht einer Mumie

- | Schweiz 2009 | 88 Minuten

Regie: Peter Liechti

Verfilmung des literarisch überhöhten Sterbetagebuchs eines Mannes, der sich in einem abgelegenen Schweizer Waldgebiet zu Tode hungerte. Ein eindrucksvoller Experimental-Dokumentarfilm, der assoziative Bildfolgen mit einer suggestiven Ton-, Geräusch- und Musikkulisse zu einem Gesamtkunstwerk vereint, das zwar zum meditativen Nachdenken über das Sterben einlädt, zugleich jedoch durch seine kontemplative Art das Leben als eine Kraft feiert, in deren Energiefeldern der Mensch nur eine unbedeutende Rolle spielt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE SOUND OF INSECTS: RECORD OF A MUMMY
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Liechti Filmproduction/SF 1
Regie
Peter Liechti
Buch
Peter Liechti
Kamera
Matthias Kälin · Peter Liechti
Musik
Norbert Möslang
Schnitt
Tania Stöcklin
Länge
88 Minuten
Kinostart
06.05.2010
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Im Winter 1990 macht ein Jäger in einem abgelegenen Schweizer Waldstück eine grausige Entdeckung: Er findet die ausgemergelte Leiche eines etwa 40-jährigen Mannes, der sich zum Sterben in die Einsamkeit des Waldes zurückgezogen hat. Unter einem Dach aus Blättern und Plastikplanen liegt nicht nur der Körper eines Menschen, der sich ohne ersichtlichen Grund zu Tode gehungert hat (zumindest deutet der Film kein Motiv an); beim Leichnam findet man auch ein minutiös geführtes Tagebuch, dem der selbsternannte „Todeskandidat“ seine Gefühle, Empfindungen und Gedanken anvertraute. Der japanische Schriftsteller Masahiko Shimado hat dieses Sterbebuch in eine Kurzgeschichte transferiert, die nun Grundlage für Peter Liechtis atemberaubenden Experimental-Dokumentarfilm „The Sound of Insects“ geworden ist. Liechti bebildert keineswegs den ohnehin kryptischen Text, der zum Ende hin immer sakralere Züge annimmt. Ob dies dem Verfasser des Tagesbuchs oder dem japanischen Autor geschuldet ist, kann dahingestellt bleiben, zumal der Film keine Aufschlüsse darüber zulässt; er liefert vielmehr Naturaufnahmen, meist nahe Einstellungen von Blättern, Sträuchern, Bäumen und Insekten, die belegen, wie sehr der Natur am Werden und dem Fortbestand gelegen ist. Unterbrochen werden diese Aufnahmen von Szenen dicht niederprasselnden Regens, wobei sich die Kamera auf einzelne Regentropfen konzentriert, die träge von grünen Blättern perlen. Liechti stellt den Fundort der Leiche nicht als apokalyptischen Sterbeort dar, sondern fotografiert ihn als einen Ort des Lebens, in dem sich der Wille zum Dasein unablässig in tausend Facetten artikuliert. Die Inszenierung kontrastiert diese sanfte Naturgewalt mit den Gedanken des Sterbewilligen, der sich in seinen Aufzeichnungen über Hunger, Kälte, Regen und Einsamkeit auslässt und davon ausgeht, dass nach etwa 40 Tagen das Ende erreicht sein müsste; zum eigenen Entsetzen hält er aber über 60 Tage lang durch. Vielleicht ist das Leben doch zäher, als man erahnt? Zwischenzeitlich denkt er über einen Abbruch seines ungewöhnlichen „Sterbexperiments“ nach, doch dann zieht er sein Programm konsequent durch. Peter Liechtis „The Sound of Insects“ bietet keine Moral. Der Film urteilt nicht, sondern konfrontiert mit Fakten und einer Fülle assoziativer Bilder, die sich der schnellen Bewertung entziehen und einen eigenen Kosmos neben den gängigen Erfahrungen schaffen. Trotz des vordergründigen Sterbethemas ist der Film eine nachdenklich stimmende Auseinandersetzung mit dem Leben, das sich in letzter Konsequenz erhalten will und erhalten wird – auch wenn der Einzelne sich gegen den Lauf der Natur entscheiden sollte. Auf visueller Ebene wird keine Story präsentiert; der Filmemacher liefert vielmehr Bildfolgen, die im erzählerischen Kontext mit dem verlesenen Tagebuch und mehr noch mit dem Score – Naturgeräusche, Vogelgezwitscher, Grillenzirpen, Wind in den Bäumen, das Prasseln des Regens und eine feine Sphärenmusik – zu einer meditativen Reise in ein Neuland auffordert, von dem alle zwar wissen, dessen Existenz jedoch zumeist verdrängt wird. „The Sound of Insects“ ist ein hochkontemplativer Film, der eine große Bereitschaft abverlangt, weil er über das dargestellte Einzelschicksal hinaus mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Im Zusammenspiel von ausgesucht schönen Bildern, Geräuschen und der dezent hineingewobenen Musik entfaltet Liechti eine Mischung aus Requiem und Symphonie, die den Toten ehrt und zugleich das Leben feiert. Wenngleich sich die Inszenierung gelegentlich in überflüssige allegorische Visionen verzettelt und ein filmisch vielfach überhöhtes Memento mori anstimmt, das Trauer und Abschied präsent macht, hat der Tod letztlich das Nachsehen; nicht ihm gilt der Film, sondern dem Leben: Blätterrauschen, Käferkrabbeln, Regenprasseln, Sonnenschein, ewige Wiederkehr.
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