Die schönsten Minuten von „Oben“ kommen völlig ohne 3D-Effekt aus: Es ist die in Zeitraffer abgespulte Rückblende auf Carls und Ellies gemeinsame Geschichte. Wie der kleine Carl mit der großen Brille die zahnlückige Ellie kennen lernt, wie der schüchterne Junge und das freche Mädchen gemeinsam der Abenteuerlust frönen und ihrem Idol, dem Forschungsreisenden Charles Muntz, huldigen, wie sie heranwachsen, heiraten und ein klappriges altes Haus beziehen, wie sie beide im städtischen Zoo arbeiten und zusammen glücklich sind, obwohl sie keine Kinder bekommen können, wie sie sich in ihrer Trauer darüber wieder auf die Pläne einer gemeinsamen Amazonas-Reise besinnen, wie die Zeit und das Geld dahin gehen, und wie es irgendwann zu spät ist für den lang gehegten Traum. Warmherzig, witzig und von unendlicher Melancholie ist diese kurze Sequenz, in der so viel passiert. Die Zärtlichkeit und Detailverliebtheit der Pixar-Filmemacher gegenüber den von ihnen erschaffenen Figuren ist hier zu spüren, zu sehen, zu hören. Dazu genügen die herkömmlichen filmischen Mittel, dazu braucht es keine räumliche Ausdehnung der Leinwand in den Kinosaal hinein. Für viel Aufsehen hatte gesorgt, dass das Filmfestival in Cannes 2009 mit „Oben“ nicht nur zum ersten Mal mit einem Animationsfilm, sondern zudem in 3D eröffnet wurde, auch dass die wichtigen Filmfestivals der von Hollywood betriebenen 3D-Offensive großzügig Einlass gewähren; schließlich ist es kein Zufall, dass Pixar-Chef John Lasseter im selben Jahr auch beim Festival in Venedig mit dem „Ehrenlöwen“ für sein Lebenswerk gefeiert wird.
Es war dann aber letztlich eine sanfte Revolution in Cannes, denn „Oben“ ist ein Film, der auch in der gewohnten zweidimensionalen Ebene funktioniert, von dem das meiste bleibt, wenn man sich die spektakulären Effekte durch die räumliche Tiefe wegdenkt. „Oben“ erzählt von dem „grumpy old man“ Carl Fredricksen, der nach dem Tod seiner Frau Ellie noch immer in dem bunt angestrichenen, windschiefen Haus wohnt und darin die glückliche Vergangenheit konserviert. Von den Zumutungen der veränderten Welt da draußen schottet sich der mürrische Alte so weit wie möglich ab. Als er jedoch in ein Seniorenheim verfrachtet werden und sein geliebtes Haus mit all den Erinnerungen verlassen soll, fliegt Carl einfach davon – in Richtung Paradise Falls, seinem und Ellies Sehnsuchtsort, mit Hilfe Tausender von Luftballons, die der einstige Ballonverkäufer in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an seinem Haus befestigt hat. Allerdings hat er einen blinden Passagier an Bord: den rundlichen Russell, dem zu seinem Pfadfinder-Titel nur noch das Seniorenhilfe-Abzeichen fehlt und der sich Mr. Fredricksen als Objekt seiner Hilfsbereitschaft auserkoren hat. Widerwillig lässt Carl ihn in sein gut gehütetes Haus und damit in sein Leben. Beides wird durch die Reise, heftige Unwetter und den ungebetenen Besucher schon mal kräftig durcheinander gerüttelt. So richtig ans Ausmisten und also auch ans Verabschieden der Vergangenheit aber geht es erst gegen Ende des Films. Zunächst landen Carl und Russell tatsächlich in der wunderschönen Landschaft von Paradise Falls, wo sie Gesellschaft von einem exotischen Laufvogel namens Kevin sowie dem zwar dümmlichen, nichtsdestotrotz aber sprechen könnenden Hund Dug bekommen – und auf Carls Jugendidol Charles Muntz treffen, der dort seit Jahrzehnten nach eben jener Wundervogel-Spezies sucht, zu der Kevin gehört. Als er das wertvolle Tier in Carls und Russells Gefolge entdeckt, ist die Jagd eröffnet, und Carl muss sich entscheiden, was ihm wichtiger ist: das Hier und Jetzt mit seinem ebenso lebendigen wie anstrengenden Personal oder die Beschwörung des Gewesenen und die Verwirklichung seiner und Ellies gemeinsamer Pläne.
Erzählt ist diese Geschichte um Abschied, Freundschaft, Neubeginn in einer gut austarierten Mischung aus Rührung und Witz – was da den richtigen Mix betrifft, hat die Pixar-Mutter Disney schließlich jahrzehntelange Erfahrung zu bieten. Pixar hingegen macht auf dem Gebiet der CGI-Animation so schnell niemand etwas vor: Liebevoll und präzise sind die Figuren und Landschaften gestaltet, Russells Pausbacken, Carls grimmige Falten und Kevins farbenfrohes Gefieder, die von dem venezolanischen Wasserfall „Angel Falls“ inspirierte Regenwald-Kulisse oder das düstere Innere von Carls Haus, das einen klaren Gegenpart bildet zu den bunten Farben, die Carls und Russells Abenteuer prägen. Überhaupt setzt Autor und Regisseur Pete Docter auf die räumlichen Gegensätze von „Drinnen“ und „Draußen“, wobei die 3D-Technik mit ihrem Changieren zwischen Fläche und Tiefe, Enge und Weite, Tradition und Aufbruch dann doch noch ganz subtil zu ihrem erzählerischen Recht kommt. So ist „Oben“ nicht nur ein herzzerreißendes, bildgewaltiges und höchst kurzweiliges Pixar-Märchen geworden, sondern auch ein gutes Beispiel dafür, wie sich der Hoffnungsträger 3D-Technik nach mehreren erfolglosen Versuchen im vergangenen Jahrhundert nun vielleicht tatsächlich etablieren könnte: nicht als von schneller Abnutzung bedrohtes Mittel der reinen Überwältigung, sondern, wohl dosiert eingesetzt und dem Geist der Story untergeordnet, als ein filmisches Mittel unter vielen.