„Ein Leben allein genügte mir nicht“. So beginnt Mateo in „Zerrissene Umarmungen“ seine Geschichte. Analog dazu könnte man Pedro Almodóvars Art des Filmemachens umreißen: Ein Film allein genügt ihm nicht. Almodóvars Filme sind immer viele zugleich – Thriller und Telenovela, Melodram und Komödie, hochemotional und kühl durchkomponiert, auf verschiedenen Zeitebenen tanzend, voller Anspielungen auf andere Filme, Kunstwerke, Motive und nicht zuletzt sein eigenes Œuvre. Insofern ist „Zerrissene Umarmungen“ ein Almodóvar-Film par excellence: Erzählt wird ein Film im Film im Film, von den Dreharbeiten zu der Komödie „Frauen und Koffer“ (die als ebenso liebevolle wie ironische Hommage an Almodóvars „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, fd 27 391, zu erkennen ist), von deren Entstehung wiederum ein „Making of“ erstellt wird. Star von „Frauen und Koffer“ ist Lena, der der Autor und Regisseur Mateo Blanco schon beim ersten Casting verfällt – und sie ihm. Lena aber ist mit Ernesto Martel liiert, einem Finanztycoon, der Lenas todkranken Vater einst einen Aufenthalt in der Privatklinik bezahlte.
Martel ist eifersüchtig und von Lena besessen, weshalb er seinen Sohn Ernesto junior mit einem Dokumentarfilm über die Dreharbeiten beauftragt. So erfährt Martel von der Affäre, die sich zwischen Mateo und Lena entwickelt – allerdings fehlt dem Filmmaterial der Ton, weshalb Martel groteskerweise eine Lippenleserin engagieren muss, eine Rolle, in der Lola Dueñas für die komödiantischen Höhepunkte von „Zerrissene Umarmungen“ sorgt. Dass das „Making of“ stumm bleibt, verweist bereits auf den tragischen Ausgang des Geschehens, bei dem Mateo nicht nur seine große Liebe und die Hoheit über seinen Film, sondern bezeichnenderweise auch sein Augenlicht verliert. Fortan nennt er sich Harry Caine und vermeidet jede Erinnerung an jene Tage. Bis Ernesto junior, der sich inzwischen Ray X nennt, 14 Jahre später vor seiner Tür steht.
„Zerrissene Umarmungen“ ist nicht nur ein Film über eine große Leidenschaft, die über den Tod hinaus hält – der Titel verweist unter anderem auf eine Szene, in der Mateo und Lena Roberto Rossellinis Film „Reise nach Italien“ (fd 3882) sehen, in dem die von Ingrid Bergman verkörperte Hauptfigur von Tränen überwältigt wird beim Anblick zweier Pompeji-Opfer, welche die Lava in ihrer Umarmung für die Ewigkeit konservierte (wobei es kein Zufall ist, dass Rossellini und Bergman ebenfalls für das berufliche wie private Zusammenspiel eines Regisseurs und seiner Hauptdarstellerin stehen). „Zerrissene Umarmungen“ ist aber auch ein Film über das Spiel mit Identitäten und damit über das Filmemachen selbst, über die Lust oder die Verzweiflung, die in verschiedene Rollen schlüpfen lässt. Es ist ein Film über die Macht des Bildes, das so lange übermächtig bleibt, bis es seine eigentliche Bestimmung gefunden hat: Von der Vergangenheit lösen kann sich Mateo/Harry (der auch ein Alter Ego Almodóvars ist) erst, nachdem er „Frauen und Koffer“ fertig gestellt hat. Und es ist ein Film über schwierige Vater-Sohn-Beziehungen, wobei sich Almodóvar auf den verstoßenen Sohn des Dramatikers Arthur Miller sowie den traumatisierten Sohn aus dem 1960er-Jahre-Skandal-Thriller „Peeping Tom“
(fd 22 696) bezieht.
Virtuos verschränkt Almodóvar die Zeit- und Handlungsebenen, verknüpft wie selbstverständlich Melodram mit Film noir sowie Thriller-, Telenovela- und Komödienelementen, flicht Bezüge, Anspielungen, Assoziationen in seinen Film und lässt das Leben und die Kunst oder aber die Kunst und die Kunst einander spiegeln. Dennoch scheint ihm bisweilen etwas der Atem auszugehen, denn der Aufbau der Rahmenhandlung wirkt mit einer langen Rückblende auf Mateos und Lenas Liebe ziemlich überladen. Ihre intensive Beziehung, der emotionale Kern des Films, verliert darüber viel von ihrer Unmittelbarkeit und jener mitreißenden Kraft, die seine Meisterwerke wie „Volver“
(fd 37 730) oder „Sprich mit ihr“
(fd 35 514) vor allem anderen auszeichnete. Trotzdem gehört „Zerrissene Umarmungen“ noch immer zum Sehnsuchtsvollsten, Anrührendsten und Schönsten, was das europäische Kino derzeit zu bieten hat. Etwa durch die Kameraarbeit von Rodrigo Prieto – nicht nur farbdramaturgisch höchst präzise komponierte Bilder – oder durch Ausstattung, Kostüm und Maske, die aus Penelope Cruz mal eine Audrey Hepburn, mal eine Femme fatale, mal das natürliche Mädchen von nebenan machen. Von der Hauptdarstellerin ganz zu schweigen, die Almodóvar hier einmal mehr zur ganzen Breite ihrer Möglichkeiten führt: grandios etwa in der Szene, in der Lena Martel für tot hält und sich auf ihrem Gesicht innerhalb weniger Sekunden Überraschung, Entsetzen, Scham über die eigene Kälte bis hin zu Erleichterung, Freude und cooler Abgeklärtheit abspielen.
Das schönste unter unzähligen schönen Bildern aber stammt aus „Frauen und Koffer“: eine perfekte Tomate, auf die eine herzzerreißende kleine Träne fällt. Ein Bild, das den weiten Weg seit den quietschbunt überdrehten Anfängen des Regisseurs deutlich macht: „Zerrissene Umarmungen“ ist auch Ausdruck einer stetigen Entwicklung hin zu einem ernsteren, melancholischeren, auch reiferen Tonfall – ein ebenso berechtigter wie natürlicher Prozess. Trotzdem ertappt man sich bei dem Gedanken, dass man den fertig gestellten Film „Frauen und Koffer“ fast noch lieber als „Zerrissene Umarmungen“ gesehen hätte.