Während ein amerikanischer Regisseur mit griechischen Wurzeln in den italienischen Filmstudios Cinecittà einen Film über das Schicksal seiner Eltern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbereitet, ringt er mit seinen eigenen Zweifeln, seiner Heimatlosigkeit sowie um seine zutiefst traurige Tochter. In einem durch Zeiten und Räume mäandernden Erzählkosmos breitet sich das Leiden einer von Grenzen, Exil und erkämpfter wie erlittener Liebe geprägten Generation sowie deren Einfluss auf ihre Kinder und Kindeskinder zum Jahrtausendwechsel aus. Dabei kann Theo Angelopoulos nur in wenigen bewegenden Momenten an die epische Kraft und Poesie früherer Meisterwerke anknüpfen und verliert sich allzu oft in fahrigen Handlungsfetzen und hölzern aufgesagten Dialogen.
- Ab 16.
The Dust of Time
- | Griechenland/Deutschland/Italien/Russland 2008 | 128 Minuten
Regie: Theo Angelopoulos
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Filmdaten
- Originaltitel
- I SKONI TOU CHRONOU | TRILOGIA II: I SKONI TOU CHRONOU
- Produktionsland
- Griechenland/Deutschland/Italien/Russland
- Produktionsjahr
- 2008
- Produktionsfirma
- Theo Angelopoulos Film Prod./Greek Film Centre/ERT-RTV Ellenica/Nova/Classic/Lichtmeer Film/Studio 217
- Regie
- Theo Angelopoulos
- Buch
- Theo Angelopoulos · Tonino Guerra · Petros Markaris
- Kamera
- Andreas Sinanos
- Musik
- Eleni Karaindrou
- Schnitt
- Giorgos Chelidonidis · Giannis Tsitsopoulos
- Darsteller
- Willem Dafoe (A.) · Bruno Ganz (Jacob) · Michel Piccoli (Spyros) · Irène Jacob (Eleni) · Christiane Paul (Helga)
- Länge
- 128 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Externe Links
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Heimkino
Diskussion
Reisen, Grenzen, Exil, menschliches Schicksal, die ewige Wiederkehr – das sind nach Theo Angelopoulos’ eigener Aussage die Themen, die ihn zeitlebens verfolgt haben. „Und vergiss nicht, die Zeit des Reisens ist wieder gekommen. Der Wind weht deine Augen fort.“ Solche erwartungsfroh anmutenden Zeilen aus einem frühen Gedicht des noch jungen Griechen wandelten sich im Lauf der Jahrzehnte des (filmischen) Reisens auf der Suche nach Wahrheit, nach einer Heimat und ihren Wurzeln zur melancholischen, Trauer umflorten Odyssee, zur Suche nach der verlorenen Zeit eines Rastlosen, der sich zunehmend von den gesellschaftspolitischen Utopien früherer Jahrzehnte verabschiedete.
Angelopoulos schien sich angesichts seiner Einsicht in eine allgemeine politische wie auch kulturelle Leere schrittweise von einem ganzen Jahrhundert zu verabschieden. So bleibt in „The Dust of Time“ den beiden alt gewordenen Protagonisten Jacob und Spyros am letzten Tag des alten Jahrtausends absolut nichts von ihren Hoffnungen und Träumen, ihren Leiden und Leidenschaften. „Wir träumten von einer anderen Welt – wo ist das alles hin? Was haben wir von dem Jahrhundert mitgekriegt?“, fragt Jacob. Worauf ihm Spyros sanft lächelnd erwidert: „Wir haben ein paar Zigaretten geraucht...“ 2004 drehte Angelopoulos den ersten Film einer Trilogie über die Vertriebenen, über sich auf Wanderschaft befindliche Menschen des 20. Jahrhunderts, den Verlust ihrer Identität, ihrer Heimat. „Trilogie I – Die Erde weint“ (fd 38 102) war die Geschichte zweier Menschen, Eleni und Spyros, und ihrer Bindung aneinander, beginnend 1919 in Odessa, endend im New York der Gegenwart; eine erste Bilanz des 20. Jahrhunderts, die das Schicksal des griechischen Volks zu einem gesamteuropäischen Leidensweg aus Verbannung, Flucht und Entwurzelung weitete. Daran schließt sich „The Dust of Time“ als mittlerer Teil der Trilogie an: die „Geschichte einer Liebe, die 1953 in der Sowjetunion begann und sich durch die Welt und über die Zeiten hinweg bis zur Gegenwart spannt“ (Angelopoulos).
Anders als in seinen früheren meisterlichen Epen, die mit gewagten Erzählellipsen, extrem langen Kameraeinstellungen und -fahrten sowie einem ans antike Theater gemahnenden Sprachduktus den betörenden Sog eines unverwechselbaren ästhetischen Prinzips besaßen, baut Angelopoulos hier erstmals auf eine konkrete Gegenwartsebene als fixe Achse seines durch die Zeiten mäandernden Erzählens, das am 31.12.1999, also am letzten Tag eines Jahrhunderts, ja eines ganzen Jahrtausends, ein definitives Ende findet. An diesem Tag begegnet ein Filmregisseur, der anspielungsreich mit dem Kürzel A. benannt wird, in Berlin seinen betagten Eltern. Mutter Eleni und Vater Spyros, zwei in Würde gealterte, sanfte, altersmilde Menschen, sind auf der Durchreise von den USA zurück in ihre angestammte griechische Heimat, die sie jedoch nicht wieder sehen werden: Mit dem Zeitenwechsel endet auch ihr Leben, genau wie das von Jacob, dem alten jüdischen Freund und Weggefährten, der Eleni still und unerreichbar liebte und ihr auf allen Etappen ihrer schicksalhaften Odyssee folgte. Eleni aber liebte ein halbes Jahrhundert lang nur Spyros, der zu Beginn der 1950er-Jahre aus politischen Gründen während einer USA-Reise verhaftet wurde und der sie 1953, just am Tag von Stalins Tod, in einer verschneiten kasachischen Kleinstadt wiederfindet. Nach einer kalten Liebesnacht in einer alten Straßenbahn (in der A. gezeugt wird) verhaftet die sowjetische Polizei Spyros und schickt Eleni in die Verbannung nach Sibirien, von wo aus sie später den dreijährigen Sohn in die Freiheit schicken kann, bevor sie in einem langen Tross von Emigranten (darunter auch Jacob) durch halb Europa immer weiter gen Westen abgeschoben wird. In den USA schließlich findet sie in den 1970er-Jahren den inzwischen verheirateten Spyros wieder, in Kanada ihren längst erwachsenen Sohn, den Filmregisseur A. Der wiederum beginnt, die Geschichte der Eltern zu rekonstruieren, um sie in den italienischen Studios von Cinecittà zu verfilmen.
Spätestens mit dieser Ebene des „Films im Film“ bekommt die ohnehin schon komplex (und kompliziert) über Zeiten und Räume, historische Details und ihre poetische Überhöhung schwebende Handlung einen folgenschweren Knacks. Mit der Leidensfabel von Eleni und Spyros (quasi als Namenspatrons des Paars aus dem ersten Teil der Trilogie auf die „Kontinuität“ in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts weisend), die sich schicksalsschwer um den deutschen Juden Jacob erweitert, evoziert Angelopoulos noch einmal mit sprachlichem Pathos und auch einiger visueller Schönheit „seine“ hermetisch abgeriegelte Welt voller existenzialistischer Symbole, um den Menschen als Spielball der Geschichte im kollektiven Überlebenskampf zu beschreiben. Dabei soll offenbar gar nicht mehr zu unterscheiden sein, ob diese Bilder nun von Theo Angelopoulos komponiert wurden oder aber der filmischen Inszenierung des Regisseurs A. entspringen, der die Geschichte seiner Eltern auch rekonstruiert, um in deren Weg in die innere Emigration seine eigene Verzweiflung, Perspektiv- und Haltlosigkeit zu spiegeln.
A., dem Produzenten einmal vorwerfen, er würde den Faden verlieren, wenn es auf das Ende der Geschichte zu ginge, lebt selbst in einer seltsam-bizarren futuristischen Gegenwart, in der die polizeiliche Kontrollmacht rigoros auf mögliche terroristische Attentate reagiert, in der A. vor dem Scherbenhaufen seiner zerbrochenen Ehe steht und in der er wie einem Phantom seiner Tochter Eleni hinterher jagt, die aus dem vagen Impuls einer offenbar ihrer jungen Generation geschuldeten Melancholie (mit der weder A. noch Angelopoulos irgendetwas anfangen kann) heraus den Tod sucht. Sein einziges Zuhause seien die Geschichten, die er erzähle, beichtet A. einmal, doch diese Geschichten erweisen sich als ein kraftloses, blasses Patchwork aus Vergangenem und Gegenwärtigem, Fantasiertem und Erlebtem mit leeren symbolischen Versatzstücken auf einer visuell wie akustisch aufgedonnerten Bühne: Statt in die „magische“ artifizielle Bildästhetik früherer Angelopoulos-Werke taucht man in einen fahrigen Torso aus manchen großartigen, durchaus auch bewegenden Einzelszenen, die von der phänomenalen Musik von Eleni Karaindrou verklammert werden, aber eben auch aus vielen zerfransten Handlungsfetzen und hölzern aufgesagten Dialogen, was gelegentlich gar Bestürzung und Ratlosigkeit hinterlässt. Theo Angelopoulos scheint dabei auch das Opfer einer höchst komplizierten europäischen Filmförderungspolitik und der damit verbundenen Sachzwänge (wild verhakte Drehorte, Sprachenwirrwarr) geworden zu sein – was von einer ganz anderen Art von kultureller Tragödie erzählt: dem möglichen Ende einer individuellen künstlerischen Poesie in Zeiten globaler Filmfinanzierungs- und -verwertungsmodelle. Die Zeit des (filmischen) Reisens ist aktueller denn je, hat aber eine andere Qualität, mit der ein „Dinosaurier“ wie Theo Angelopoulos offenbar nichts anfangen kann.
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