Das Kino hat seit der Einführung der „talkies“ regelrecht Angst vor dem Schweigen – was seltsam ist für ein Medium, das doch auf die Kraft der Bilder baut. Sieht man von Kunst- und Experimentalfilmen einmal ab, wird im Film nur selten nicht gesprochen; viel zu oft wird viel zu viel erklärt oder (zur Not aus dem Off) kommentiert. Stumme Sequenzen wie etwa die Eröffnungssequenz aus „2001 – Odyssee im Weltraum“
(fd 15732) bleiben schon deshalb in Erinnerung, weil das Fehlen von Dialogen ebenso irritiert wie fasziniert. Es ist bemerkenswert, dass nun ausgerechnet ein Animationsfilm aus dem Bereich des Mainstreams die Wortlosigkeit auf die Spitze treibt. Schon allein deshalb darf man Pixars animierten „Kinderfilm“ „WALL·E“ in punkto formaler Radikalität mit Kubricks singulärem Science-Fiction-Epos aus dem Jahr 1968 vergleichen.
In „WALL·E“ gibt es nichts zu reden, weil es keine Menschen mehr gibt. Vor gut 700 Jahren haben die letzten die Erde verlassen; der verseuchte, lebensfeindliche Planet bot keine Alternative mehr zu den riesigen Luxusraumschiffen, die ein sorgenfreies Leben versprachen. Es ist eher Zufall, wenn auf der Erde der großspurige Werbeclip auf einem der riesigen Bildschirme aktiviert wird, der von den ewigen Ferien auf dem megalomanen Sternenkreuzer schwärmt. Das sind dann aber auch die einzigen „menschlichen“ Worte, die durch die verlassenen Ruinen hallen. Ansonsten ertönt nur Gefiepse, das Knirschen von Metall auf steinernem Untergrund sowie der blecherne Sound einer alten Videokassette, aus der mindestens einmal täglich „Put on your Sunday Clothes“ tönt. Verantwortlich dafür ist WALL·E, ein kleiner Roboter mit Planierraupenfüßen, den dreifingrigen Greifhänden eines Fließbandsklaven und zwei Webcam-Augen. In seinem kubischen Körper lässt sich Schrott zu stapelbaren Würfeln pressen. Das macht er nun schon seit 700 Jahren, was dazu führte, dass er die Landschaft um einige metallerne Wolkenkratzer bereichert hat. WALL·E ist sozusagen eine „Laune der Natur“: Nicht nur, dass er noch funktioniert, wo sonst gar nichts mehr funktioniert; in ihm hat sich auch etwas entwickelt, was von seinen Konstrukteuren nicht geplant worden war: eine Art Seele! Deshalb frönt WALL·E am Feierabend seinen Hobbys: dem Sortieren seines Lieblingsmülls, dem Spiel mit seiner Haus-Kakerlake namens HAL (!) oder dem sentimentalen Schwelgen zu besagtem Song aus dem Musical „Hello Dolly“. Insgeheim sehnt sich der kleine Roboter danach, auch einmal mit seinesgleichen Händchen halten zu können – ganz so wie in dem Ausschnitt auf der Videokassette, die er sich jeden Abend anschaut. Als dann eines Tages ein riesiges Raumschiff landet, um eine kleine Drohne in die Mülllandschaft zu entlassen, könnte sein Traum sogar in Erfüllung gehen. Doch der Hightech-Roboter namens EVA ist zunächst alles andere als erpicht auf zwischenrobotische Beziehungen. Erst WALL·Es fast schon zärtliche Beharrlichkeit weicht die auf Feindschaft programmierten neuronalen Netzwerke EVAs auf – ganz verhalten spüren die beiden so etwas wie Freundschaft. Doch als WALL·E EVA seinen neuesten Müllfund, ein kleines grünes Etwas, zeigt, übernimmt EVAs eigentliche Bestimmung das Kommando über ihre Schaltkreise: das Sichern und Bergen von Lebensformen.
Bis zu diesem Moment – also fast bis zur Hälfte des Films – wartet man vergeblich auf signifikantere Dialogsätze, die über „WALL·E!“ und „EVA!“ hinausgingen. Obwohl diese niemand vermisst, im Gegenteil. Jeder Satz ist überflüssig in dieser anrührendsten Liebesgeschichte seit Romeo und Julia. Für alles, was trotzdem gehört werden soll, sorgen zwei Männer: Ben Burtt und Thomas Newman. Der 60-jährige Sounddesigner Burtt war u.a. dafür verantwortlich, dass das Lichtschwert in „Krieg der Sterne“
(fd 20658) so klingt, wie es klingt, dass Darth Vader so angsteinflößend atmet und man bei R2-D2 nie bedauert hat, dass er nicht spricht wie ein Mensch. Burtt sorgt auch in „WALL·E“ für das, was Roboter von sich geben, wenn sie unter sich sind, was mindestens so aussagekräftig ist wie menschliche Sprache. Der Film ist zwar dialoglos, aber alles andere als leise. An die Stelle des gesprochenen Wortes als Ausdrucksmittel tritt im Fall von „WALL·E“ umso stärker die Musik. Thomas Newman ist von „Die Verurteilten“
(fd 31221) über „American Beauty“
(fd 34006) bis hin zu „The Good German“
(fd 38062) insgesamt acht Mal für den „Oscar“ nominiert worden und er wird es für „WALL·E“ auch ein neuntes Mal werden. Seine Musik ergeht sich in allem, was Holzbläser-, Saiten- und Schlaginstrumente bieten können. Besonders die Flöte, das Xylophon und diverse Harfenvarianten übersetzen auch die abstraktesten Regieanweisungen in erlebbare Emotionen. Gleich einer romantischen Programmmusik wie etwa Tschaikowskys Ballett zu „Romeo und Julia“ spielt Newman mit Sentiment und Dramatik und sorgt so, mal mehr, mal weniger explizit, für Gänsehaut. Verschwiegen werden soll an dieser Stelle natürlich nicht die perfekte Animationskunst aus dem Hause Pixar, die es von „Toy Story“
(fd 31830) bis „Ratatouille“
(fd 38348) immer wieder schafft, absonderliche Geschichten in glaubhafte (Computer-)Bilder zu transferieren. Regisseur Andrew Stanton und seinem Character-Art-Designer Jason Deamer haben es geschafft, einem Roboter, der aus wenig mehr besteht als zwei Fotozellen und sechs Metallfingern, die ganze Palette (menschlicher) Gefühle einzuhauchen. Das allein wiegt weit mehr, als der mit großem Aufwand erfolgreich betriebene Versuch, Computeranimation mittels der dritten Dimension noch „echter“ wirken zu lassen.
Die Geschichte um WALL·E und EVA geht natürlich auch nach dem Pflanzenfund weiter. Sie wird konventioneller, weil dramatisch zugespitzt, und erhält mit einem Haufen „behinderter“ Roboter die für einen Trickfilm unvermeidlichen komischen Sidekicks. Schließlich findet das Geschehen seinen actionreichen Höhepunkt auf dem Mega-Raumschiff, in dem die Roboter für ihre Liebe, den Erhalt der Pflanze und damit für den Neuanfang einer Menschheit kämpfen, die in den letzten sieben Jahrhunderten zu einem Volk aus lauter dicken Würmern degeneriert ist. Womit das Ganze schließlich auch eine propere ökologische Botschaft erhält. Für immer und ewig aber wird die erste Hälfte von „WALL·E“ im Gedächtnis haften bleiben, die dem Zuschauer die drei wichtigsten Tugenden des Kinos in Erinnerung rufen: zuschauen, zuhören, gebannt sein!