The Pervert's Guide to Cinema

Dokumentarfilm | Großbritannien/Österreich/Deutschland/Niederlande 2006 | 154 (TV 85) Minuten

Regie: Sophie Fiennes

Der Kulturtheoretiker Slavoj Zizek vertritt die These, dass Kino nicht primär dazu da ist, vorhandene Wünsche zu befriedigen, sondern das Publikum die Sehnsucht lehrt. Anhand eines wilden und bisweilen spekulativen, stets höchst unterhaltsamen "Ritts" durch die Filmgeschichte untersucht er Strategien und jongliert mit den Subtexten hinter den Bildern, wobei er berühmte Szenen interpretierend nachstellt. Dabei geht es nicht um psychoanalytische Filmauslegung, sondern um einen grundlegenden (und spielerisch-lustvoll aufbereiteten) Dialog zwischen Film und Philosophie/Psychoanalyse. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
THE PERVERT'S GUIDE TO CINEMA
Produktionsland
Großbritannien/Österreich/Deutschland/Niederlande
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Amoeba/Lone Star/Mischief/Kasender Film
Regie
Sophie Fiennes
Buch
Slavoj Zizek
Kamera
Remko Schnorr
Musik
Brian Eno
Schnitt
Sophie Fiennes · Marek Kralovsky · Ethel Shepherd
Länge
154 (TV 85) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Zu Beginn eine Erinnerung an Jame Gump („Das Schweigen der Lämmer“) und seinen Wunsch, in eine andere, fremde Haut zu schlüpfen. Dazu eine Stimme aus dem Off: „Unser Problem ist nicht, ob unsere Sehnsüchte befriedigt werden oder nicht. Das Problem ist: Woher wissen wir, was wir ersehnen?“ Keine Frage, diese Stimme, ihr Lispeln, ihre Energie und Dringlichkeit und ihr fortwährender Kampf mit der englischen Sprache ist vertraut. Längst ist der Kulturtheoretiker und Lacanianer Slavoj Zizek dozierend ins Bild getreten. Zizek wässert einen Garten („Blue Velvet“!) und erzählt, dass menschliche Sehnsucht nichts Natürliches sei, sondern erlernt werden müsse. Hier kommt das Kino, diese perverse Kunst, ins Spiel: „Es gibt einem nicht, was man sich wünscht, sondern lehrt die Sehnsucht.“ In einem schönen Filmausschnitt aus Clarence Browns „Possessed“ (1931) präsentiert er ein Beispiel für „magic cinematic experience“, wenn Bilder und Geschichten langsam am Zuschauer vorbei gleiten und ihn gefangen nehmen. In einem wilden, aber ausgesprochen kenntnisreichen Ritt quer durch die Filmgeschichte bringt Zizek die Subtexte hinter den Bildern und Erzählungen zum Vorschein und zum Tanzen, mal mit Freud, mal mit Lacan. Seine Favouriten stehen dabei seit Jahren fest: Hitchcock, Chaplin, Lynch, Kubrick, Haneke, Bergman, Tarkowski und die Marx Brothers; Godard, Truffaut oder Antonioni liegen ihm hingegen nicht so sehr. Es geht Zizek nicht um psychoanalytisch inspirierte Filminterpretationen, sondern um einen grundlegenden Dialog zwischen Film und Philosophie/Psychoanalyse, ganz im Sinne des Titels des Sammelbandes, der ihn Ende der 1980er-Jahre bekannt machte: „Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten“. Deshalb dreht sich alles um absurde Vaterfiguren bei Lynch, um den Phallus und andere „große Dinge“, um die vom Körper abgelöste Stimme in „Der Exorzist“ oder „Das Testament des Doktor Mabuse“, um Vergewaltigung durch Worte, um „böse Blicke“, mit denen sich der Kinozuschauer identifiziert, um Sowjet-Musicals, Disneys „Pluto“ und die stalinistischen Schauprozesse. Zizeks These: Wir brauchen die Fiktion, um spielerisch unsere „wahre“ Natur, die ultimativen Sehnsüchte „auszuleben“. Seine Schlusspointe: „Wenn Sie nach dem suchen, was in der Realität realer als Realität selbst ist, dann beschäftigen Sie sich mit filmischer Fiktion.“ Zizek parliert auf Augenhöhe mit den Cinephilen, die ihm problemlos von Bobby Peru zu Norman Bates, von der Zone in „Stalker“ in den Keller des Hauses oberhalb von „Bates Motel“ folgen können, die sich an Scottie und Madeleine/Judy, aber auch an Judy (Garland) und ihre roten Schuhe im „Zauberer von Oz“ erinnern und das Zitat aus „Wild at Heart“ erkennen. Dank des Kultur-Discounters Zweitausendeins erfährt Sophie Fiennes’ von der Kritik gefeiertes essayistisches Porträt „The Pervert’s Guide to Cinema“ aus dem Jahr 2006 hierzulande einen verspäteten Kinostart; eine stark gekürzte Fernseh-Erstausstrahlung gab es im Juni 2008 auf 3sat. An „The Pervert’s Guide“ hat Zizek konzeptionell entscheidend mitgewirkt, und es spricht für den abgründigen Humor des Slowenen, dass er sich in entscheidende Filmszenen seines Analyse-Parcours lustvoll hinein imaginiert. Wenn es um die berühmte erste Vogelattacke in Hitchcocks „Die Vögel“ geht, dann überquert der Philosoph wie einst Melanie Daniels mit einem kleinen Motorboot die Bucht von Bodega Bay und erklärt dem Zuschauer, dass das angriffslustige Federvieh „natürlich“ ein Bild für die rohe, inzestuöse Energie der eifersüchtigen Mutter von Mitch Brenner ist. Wer hat schon mal überlegt, warum Hitchcock in „Psycho“ so ausführlich die Reinigung des Badezimmers nach dem Mord zeigt? Über Pornografie heißt es hier, dass man zwar alles gezeigt bekommt, dafür allerdings den Preis zu zahlen hat, dass die Geschichte, die die sexuellen Handlungen motiviert, nicht ernst genommen werden darf. Filme, die den Zuschauer emotional addressieren, dürfen im Gegensatz dazu keine sexuellen Aktivitäten zeigen. Fraglich, ob das nach „29 Palms“, „Intimacy“ oder „9 Songs“ so rigide noch haltbar ist. Glanzvoll dann allerdings wieder Zizeks Beobachtung, wie die „Tragik der Pornografie“ versuchsweise durch Worte, aber gerade nicht durch Bilder überwunden werden könnte. Beispiele liefern Kubrick, Lynch und auch Bergman. Zizek, bestens ausgestattet mit dem entschiedenen Mut zur überkandidelten Zuspitzung, kommentiert Filmausschnitte von der Toilette aus, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, glänzt durch erstaunliche intellektuelle Volten und scheint mit seiner Energie den Bildausschnitt sprengen zu wollen. Man kann diese nervöse Theorie-Performance für ein intellektuelles Vergnügen ersten Ranges oder für Schaumschlägerei halten, zumal Zizek Schwierigkeiten haben dürfte, seine steilen Thesen für die geschlossene Interpretation eines einzelnen Films tauglich zu machen. Ihm geht es eher um eine vertikale Passage durch einzelne Szenen und Einstellungen, die quasi unbewusste Verdichtungen psychoanalytischer Konstellationen sind oder doch immerhin sein könnten. Vieles scheint bedenkenswert, bereichert die Filmklassiker und macht neugierig auf ein Wiedersehen.
Kommentar verfassen

Kommentieren