Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften – es ist die Befindlichkeit eines Individuums innerhalb einer organisierten Form, die Regisseur Dennis Gansel ganz besonders zu interessieren scheint. Immer geht es in seinen Filmen um Gruppendynamik, Machtverhältnisse, Verführung und Anerkennung. Immer geht es um Zivilcourage und Selbstbewusstsein und um die Fähigkeit, für seine eigenen Überzeugungen auch gegenüber einer breiten Mehrheit einzutreten. Schon in seinem Spielfilmdebüt „Das Phantom“ (2000) – erstaunlicherweise eine Produktion des Privatsenders ProSieben, einer der besten TV-Filme der letzten Jahre – untersuchte er die bundesrepublikanische Gesellschaft und ließ einen Polizisten (Jürgen Vogel) eine staatsverschwörerische RAF-Theorie aufdecken. Spielt Vogel hier noch eine Opferrolle, einen Menschen, der zufällig und unwillentlich in etwas hineingezogen wird, gibt er in „Die Welle“ den aktiven Verführer. Er spielt den dynamischen und beliebten Lehrer an einer Durchschnittsschule, der in der Projektwoche das Thema Autokratie bearbeiten muss. In seinem Kurs kommt die Frage auf, ob eine Diktatur, heute und in Deutschland, überhaupt noch möglich sei. Uneinig startet die Klasse ein Experiment: Der Lehrer spielt den unumschränkten Herrscher, dessen Schüler allem folgen müssen, was er anordnet. Nach und nach freundet sich der Großteil der Klasse mit der verordneten Disziplin und den eindeutigen Vorgaben an, beginnt sich immer stärker miteinander zu solidarisieren – und folgerichtig Andersdenkende auszuschließen. „Die Welle“ basiert auf dem gleichnamigen Jugendbuchklassiker von Morton Rhue, der wahre Erlebnisse eines Lehrers an einer kalifornischen Schule schildert.
Der Film ist die konsequente Fortsetzung einer Thematik, die Gansel schon in „Napola“
(fd 36 860) zur Diskussion gestellt hat. Eine Diskussion, die leider von der politischen Debatte um „Der Untergang“
(fd 36 679) überdeckt wurde. Viele Kritiker warfen Gansel vor, sein Film würde nicht genügend hinterfragen, ja die Nazi-Zeit teils verherrlichen, weil er – ebenso wie „Der Untergang“ – die Distanz nicht wahren und durch zuviel Nähe dem Faszinosum der schlechten Seite erliegen würde. Doch wie soll man ohne Nähe den Dingen auf den Grund gehen? Gansel ist jemand, der diese Nähe sucht. Er zeigt, warum Menschen sich für eine Sache begeistern können, die grundlegend falsch ist, die aber trotzdem mit Ideen und Perspektiven lockt, nach denen sich viele Menschen sehnen. Eines dieser positiven Elemente wird in einer der Schlüsselszenen der „Welle“ aufgegriffen, in einer scheinbar kleinen Momentaufnahme auf dem Schulhof: An jeder Schule gibt es Schüler, die gehänselt oder tyrannisiert werden, und so wird auch hier gezeigt, wie ein Junge von zwei Mitschülern aufgezogen wird. Das Opfer ist dieses Mal allerdings Mitglied der Autokratie-Projektgruppe, was man an seinem weißen Hemd erkennen kann, das jedes Gruppenmitglied uniform trägt. Zunächst zögernd, aber dann mit wachsender Überzeugung springen dem Jungen nun zwei weitere Gruppenmitglieder zur Seite; eine Situation, die ohne das durch äußere Umstände geschaffene Zusammengehörigkeitsgefühl nicht zustande gekommen wäre. Was geht nun aber in dem Menschen vor, dem zum ersten Mal geholfen wurde? Muss in dem Augenblick seine Begeisterung für die Gruppe nicht immens sein? In dieser Szene legt der Film das Fundament für die Frage nach Verführung und Begeisterung, denn hier entsteht das positive Element für die Protagonisten nur indirekt durch den Einfluss des Demagogen, hier zeigt das Experiment individuelle Konturen durch die Eigeninitiative und das Handeln einzelner Schüler. „Die Welle“ ist wie schon sein Vorgänger „Napola“ ein wertvoller Beitrag zur Diskussion um menschliche Regungen, Wünsche und Bedürfnisse. Es geht um die Verantwortung des Individuums in der Gesellschaft und darum, wie anfällig unser scheinbar so selbstsicheres Ich sein kann. Ganz nebenbei festigt Gansel mit dem Film seinen Ruf, schwierige Stoffe unterhaltsam und spannend verpacken zu können. Das ist nach der diskursiven Ebene die zweite große Leistung des Films.