Fünf Menschen erleben während einiger Ferientage, wie ihre Familie schmerzlich auseinander driftet. Das grausame Bild sozialer Verwüstungen inmitten finanzieller Sicherheit, dessen Ausdruck noch durch die scheinbar idyllische Umgebung gesteigert wird, in der sich die verletzten, enttäuschten und sprachlosen Menschen bewegen. Der genau beobachtende Film beschreibt den Niedergang seiner Protagonisten präzise, wobei seine Personen an die Tschechowschen Sommergäste erinnern.
- Sehenswert ab 16.
Nachmittag
Drama | Deutschland 2007 | 95 Minuten
Regie: Angela Schanelec
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Nachmittagsfilm/ZDF
- Regie
- Angela Schanelec
- Buch
- Angela Schanelec
- Kamera
- Reinhold Vorschneider
- Musik
- Johann Sebastian Bach
- Schnitt
- Bettina Böhler
- Darsteller
- Jirka Zett (Konstantin) · Miriam Horwitz (Agnes) · Angela Schanelec (Irene) · Fritz Schediwy (Alex) · Mark Waschke (Max)
- Länge
- 95 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
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Heimkino
Diskussion
An der „Berliner Schule“ scheint die Begeisterung für den neuerdings medial herbeigesehnten Rückzugsraum Familie vorbei gegangen zu sein. Nach Thomas Arslans „Ferien“ (fd 38 191) und Ulrich Köhlers „Montag kommen die Fenster“ (fd 37 868) taucht nun auch Angela Schanelec in die Schmerzzonen familiärer Unbehaustheit ein, mit einer Unbarmherzigkeit, die schon fast wie purer Trotz angesichts der idyllischen Natur erscheint, die sich von der schlechten Laune ihrer Besucher nicht anstecken lässt. Kaum zu glauben: Es ist Sommer. Schanelec hat Tschechows „Möwe“ in einer schönen Berliner Villa am See zu neuem Leben verholfen, oder besser zu neuem Leiden. Auch wenn die Original-Dialoge fehlen, ist die Sprache nicht weniger künstlich. Gleich die erste Einstellung zeigt die Totale eines leeren Zuschauerraums und einer Theaterbühne, auf der die Hauptfigur – mit versteinerter Miene von Schanelec selbst gespielt – ihrer Arbeit als Schauspielerin nachgeht. Bewaffnet mit Rock und Tasche, schreitet sie die Bretter wie in einem Käfig auf und ab, bückt sich dann zu einem Hund und spricht den viel sagenden Text: „Du bist jung, und ich bin deine einzige Gesellschaft.“ Einen harten Schnitt weiter schaut man der Schauspielerin dabei zu, wie sie sich dem Schauspiel ihres Lebens verweigert. In der Villa am See lässt sie sich stumm leidend vom Auseinanderdriften ihrer Familie treiben, ohne dass sie imstande wäre, etwas dagegen zu unternehmen. Halt bieten nur Sommerrituale: Schwimmen, An- und Ausziehen, gemeinsame Mahlzeiten, Spaziergänge.
Irene ist mit ihrem schriftstellernden Freund nach langer Abwesenheit zu Besuch in ihrem Haus am See, wo ihr depressiver älterer Bruder mit ihrem Sohn Konstantin lebt. Dessen Freundin Agnes, die sich während der Semesterferien bei ihren im Nachbarhaus wohnenden Eltern einquartiert hat, ist auch mit von der Partie. Abschiedsstimmung hängt in der Luft. Obwohl auf engstem Raum versammelt, entfernen sich die fünf, von denen eigentlich jeder nur mit sich selbst beschäftigt ist, immer weiter voneinander. Auf die künstlerischen Ambitionen von Konstantin, die mit tiefen Zweifeln einhergehen, reagiert Agnes mit Liebesentzug, ob aus Selbstschutz oder Überdruss bleibt nur zu vermuten. Der ältere Bruder signalisiert der Schwester, dass er jegliches Interesse an ihr verloren hat, ergeht sich in sadistischen Sticheleien, nur um anschließend angewidert vom Dasein seine Zuflucht im Bett zu suchen. Auf harsche Worte am Nachmittagstisch folgen keine Tränen oder versöhnliche Aussprachen am Abend. Das fast schon unfreiwillig komisch intellektuelle Personal ist zu erschöpft um zu reagieren, lieber steht es sich selbst im Weg und übt sich als Wiedergänger der Tschechowschen Sommergäste.
Wenn die Kamera nicht selbstverliebt überreife Kirschen auf einem Teller fixiert, wirft sie lange Blicke in das Innerste der somnambul in der Sommerhitze dahin gleitenden Menschen. Enttäuschte Erwartungen, Verletzungen, quälendes Schweigen und Lethargie fängt sie in Großaufnahmen von Gesichtern auf, die zu Masken eines Phantomschmerzes erstarren, der sie voneinander und der Außenwelt trennt. Schönheit und Verzweiflung sind so nah, dass es einem den Atem verschlägt. Sogar der Selbstmord von Konstantin, der an der Erkenntnis seiner Einsamkeit verzweifelt und auf einem Schwimm-Ponton mit einer Überdosis Tabletten im Magen einschläft, geschieht so schmerzhaft unbemerkt von den anderen und zugleich eingebettet in den Zauber der lichtdurchfluteten Jahreszeit, dass man viel zu lange braucht, um seinen leisen Abgang als das zu registrieren, was er ist: die Kapitulation vor den festgefahrenen Verhältnissen, die selbst inmitten der Familie keine wärmende Bindung mehr bieten.
„Nachmittag“ ist eine weitere grausam pessimistische Variation von sozialen Verwüstungen inmitten materieller Sorglosigkeit, die so scharf wie kunstvoll nur Angela Schanelec durchzuexerzieren vermag. Einzig die Sprache leistet mit kurzen Hauptsätzen und Imperativen Widerstand gegen den Zerfall der Welt. Wenn zum Schluss Musik von Bach erklingt, dann ist das nicht nur Erlösung, sondern auch Aufforderung, loszulassen und den Blick über den Tellerrand des quälenden Selbst zu wagen.
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