Dokumentarfilm | USA 2007 | 122 Minuten

Regie: Michael Moore

Dokumentarfilm von Michael Moore über das private Gesundheitssystem in den USA, der seiner pessimistischen Bilanz einen bitteren Witz verleiht und sich als bewusste Provokation polemisch gegen die mangelnde staatliche Regulierung sowie das Profitstreben der Versicherungen wendet. Da der Film eher auf unterhaltsame Emotionalisierung statt auf argumentative Schärfe setzt, leidet seine Glaubwürdigkeit. Vor allem die schönfärberische Darstellung staatlich geregelter Gesundheitssysteme als positive Gegenbilder zum amerikanischen System diskreditiert in ihrer Naivität die Absichten des Filmemachers. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SICKO
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Dog Eat Dog Films/The Weinstein Company
Regie
Michael Moore
Buch
Michael Moore
Kamera
Christoph Vitt
Musik
Erin O'Hara
Schnitt
Geoffrey Richman · Christopher Seward · Dan Swietlik
Länge
122 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Standard Edition (Leihfassung) enthält keine bemerkenswerten Extras. Die Special Edition (2 DVDs) beinhaltet hingegen diverse Kurzdokus zu Teilaspekten des Films sowie Interviews mit den Beteiligten.

Verleih DVD
Senator (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Dass 47 Mio. Amerikaner ohne Krankenversicherung auskommen müssen, gilt in den USA weithin als untragbarer Zustand. Selbst moderate Republikaner arbeiten auf Bundesstaatenebene an Initiativen, die eine Versicherungspflicht vorsehen. Die demokratischen Parteimitglieder räumen im Vorwahlkampf ohnehin den jeweiligen Programmen, mit denen ihre Präsidentschaftskandidaten einen flächendeckenden Versicherungsschutz erzielen wollen, oberste Priorität ein. Deshalb rennt Michael Moore mit seinem Dokumentarfilm zunächst offene Türen ein, wenn er unversicherte Landsleute von ihren Horrorerlebnissen berichten lässt. Da kann es passieren, dass jemand nach einem Heimwerkerunfall knallhart kalkulieren muss, welchen der abgetrennten Finger er sich von seinen Ersparnissen wieder annähen lassen kann. Umso verblüffender ist es, wenn Moore nach wenigen Minuten aus dem Off mitteilt, dass die oftmals tödlichen Folgen des fehlenden Versicherungsschutzes gar nicht sein Thema sind - und sich danach sozusagen einer verschlossenen Tür zuwendet, an der im politischen Diskurs des Landes zurzeit niemand rüttelt. Die meisten Menschen, die im weiteren Verlauf zu Wort kommen, haben eine Krankenversicherung – und mussten trotzdem feststellen, dass auf diese wenig Verlass ist. Im Zweifelsfall wurde eine lebensrettende Behandlungsmethode mit dem Argument verweigert, dass diese, obwohl andernorts bereits flächendeckend eingesetzt, sich noch nicht bewährt hätte. Oder der Rettungswagen durfte aus Vertragsgründen trotz eines sterbenskranken Kindes an Bord nicht das nächstgelegene Krankenhaus ansteuern. Den zwingenden Grund für solchen Wahnsinn beschreiben Versicherungsangestellte, die die knallharten Methoden zur Gewinnmaximierung durchsetzen mussten, die Ziel eines jeden Privatunternehmens ist, im Fall eines privaten Gesundheitssystems aber Leben kostet. Da erhalten Mediziner Prämien, wenn sie nach oberflächlicher Begutachtung möglichst viele Behandlungen für unnötig erklären, und Detektive suchen spitzfindig nach Anlässen, um Versicherten nachträglich einen Bruch von Vertragspflichten anzulasten. Dass solch ein Verhalten systemimmanent ist, beweist ein Tonband, das Moore einspielt, und auf dem Präsident Nixon der Einführung des aktuellen Versicherungssystems seine Zustimmung erteilt, nachdem ein Berater ihm zugesichert hat, dass damit Anreize für eine möglichst geringe gesundheitliche Versorgung geschaffen würden. Wie in seinen früheren Filmen bedient sich Moore unterschiedlichster filmischer Mittel, um seiner Argumentation bitteren Witz zu verleihen. So lässt er die schier endlose Liste an Gründen, mit denen Versicherungen Aufnahmeanträge ablehnen dürfen, in Form der berühmten „Star Wars“-Exposition über die Leinwand flimmern. Zudem montiert er historisches Found-Footage-Material, um etwa die antikommunistisch begründete Verteufelung staatlicher Gesundheitssysteme durch Amerikas Konservative mit Ausschnitten aus einem sowjetischen Musical zu karikieren. Erneut gliedert er seine Argumentation durch episodische Verlagerungen der Handlung, wobei die Reise ihn über seine Heimatstadt Flint in Länder mit staatlichen Gesundheitssystemen führt: nach Frankreich, Großbritannien, Kanada und – besonders provokant – Kuba. Formal wirkt das indes nicht beeindruckend; nie wird die nüchterne Ökonomie erreicht, mit der in „Fahrenheit 9/11“ (fd 36 596) eine kurze Episode die Rekrutierungspraktiken der US-Armee entlarvte, oder das präzise Timing, mit der der Einschub einer kaugummikauenden Britney Spears eine lakonische Pointe setzte. Stattdessen zeigt sich Moore, wenn Tränen fließen, noch indiskreter als gewohnt und lässt kaum eine Gelegenheit zu sentimentalem Musikeinsatz aus. Zudem fehlt dem Populismus des Filmemachers jeder Anknüpfungspunkt im aktuellen politischen Diskurs; die von ihm favorisierte staatliche Gesundheitsversorgung wird in den USA wohl auf absehbare Zeit utopisch bleiben. Da ist es bezeichnend, dass Moore ausgerechnet zu der Favoritin für die demokratische Präsidentschaftskandidatur bissig auf Distanz geht. Mit Bezug auf das Programm für ein staatliches Gesundheitssystem, das Hillary Clinton zu Beginn der Präsidentschaft ihres Mannes erarbeitet hatte, montiert Moore Fotos der Politikerin zu einer vorteilhaften Montagesequenz, deren übertrieben schwärmerischer Off-Kommentar damit endet, sie „sexy“ zu nennen. Was folgt, ist eine umso bitterere Abrechnung mit jener programmatischen Bescheidenheit, die Mrs. Clinton sich offenbar als Lehre aus dem Scheitern ihres einstigen Planes zu eigen gemacht hat. Moore wirft ihr mit Hinweis auf entsprechende Wahlkampfspenden vor, von den Lobbyisten der Versicherungsfirmen schlicht gekauft worden zu sein. Während „Sicko“ keinen erkennbaren Einfluss auf die politische Debatte in den USA gehabt hat, könnte der Film hierzulande eine heilsame Perspektivverschiebung bewirken. Wenn ein Amerikaner hier europäische Gesundheitssysteme als paradiesisch darstellt, mag das auf uns, angesichts näherer Erfahrungen, reichlich naiv wirken. Während wir es umgekehrt gewohnt sind, dass von allen Seiten ständig die vermeintliche Ineffizienz des Systems bejammert und mehr Wettbewerb eingefordert wird, führt „Sicko“ wirkungsvoll vor Augen, wie gruselig die einzige Alternative zu einer staatlich geregelten Gesundheitsversorgung aussieht.
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