Beobachtungen aus dem Alltag eines vierjährigen gehörlosen Mädchens und seiner hörenden Familie. Daneben gewährt der Film Einblicke in die Kunst und Kultur der Gehörlosen und lässt in knappen Statements Gebärdensprache-Professoren und Mitarbeiter der Gehörlosengemeinschaft PAX zu Wort kommen. Die ohne belehrenden Off-Kommentar auskommende, hervorragend fotografierte Dokumentation konzentriert sich ganz auf die Protagonisten und vermittelt nicht nur einen erhellenden Einblick in die gar nicht so "stille" Welt der Gehörlosen, sondern auch deren Lebensfreude und selbstbewussten Umgang mit ihrem "Anderssein". (Laut- und Gebärdensprache m.d.U.)
- Sehenswert ab 10.
Wir sehen voneinander
Dokumentarfilm | Deutschland 2006 | 91 Minuten
Regie: Lilo Mangelsdorff
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Cinetic/ZDF-3sat
- Regie
- Lilo Mangelsdorff
- Buch
- Lilo Mangelsdorff
- Kamera
- Sophie Maintigneux · Andreas Frowein · Lilo Mangelsdorff
- Schnitt
- Lilo Mangelsdorff
- Länge
- 91 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 10.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb
Diskussion
Spielfilme wie das Hollywood-Melodram „Gottes vergessene Kinder“ (fd 26 060) oder Caroline Links deutscher Erfolgsfilm „Jenseits der Stille“ (fd 32 278) haben ein Millionenpublikum mit der Welt der Gehörlosen vertraut gemacht. Lilo Mangelsdorffs „Wir sehen voneinander“ entführt nun mit den Mitteln des Dokumentarfilms in diese fremde Welt und lässt den Zuschauer Anteil nehmen am Leben der vierjährigen gehörlosen Selina, ihrer hörenden Eltern und ihres gemeinsamen Umfelds. Schnell lernt man, dass Gehörlosigkeit nicht taubstumm bedeutet. Mehr noch: „Taubstumm“ ist für Gehörlose eine Beleidigung, können sie sich doch in ihrer Sprache durch Gestik und Mimik ausdrücken. Die aber war ihnen lange verwehrt worden. Die schon während der Aufklärung von dem französischen Abbe de L’Epée entwickelte Gebärdensprache wurde vor knapp 100 Jahren auf dem Mailänder Kongress international als Lehr-Sprache geächtet und hierzulande erst 1998 in Hessen als Minderheitensprache anerkannt. Viele Ärzte raten auch heute noch vom Erlernen der Gebärdensprache ab, bevorzugen die Lautsprache. Sinas Eltern haben sich entschlossen, ihre Tochter bilingual zu erziehen, und deshalb selbst die Gebärdensprache erlernt. Unaufdringlich begleitet die Kamera Selina durch ihren Alltag: im integrierten Kindergarten, der ihr nicht das Gefühl vermittelt, die einzige „Behinderte“ zu sein; beim Spiel mit Freunden und dem kleinen, hörenden Bruder; bei Unternehmungen mit den Eltern, vom Vorlesen bis zum Treffen mit anderen Gehörlosen-Familien. Daneben stehen erfreulich knapp gehaltene, zugleich stets informative Statements von Sprach-Professoren und Mitarbeitern der Gehörlosengemeinschaft PAX. Auch einige erwachsene Gehörlose erzählen von ihrer Kindheit und den Schwierigkeiten, sich in der Welt der Stille einzurichten. Zugleich schlägt der Film einen Bogen zur Begegnung der Gehörlosen mit der Kunst: Ein Gehörlosen-Chor lernt durch die Vibrationen einer mit Wasser gefüllten Klangschale Töne „fühlen“, der Gebärdenkünstler Jürgen Endress trägt Gebärdensprachen-Poesie vor, man spielt Theater und gestaltet Gottesdienste mit.
Alle diese Eindrücke haben Lili Mangelsdorff und ihre großartige Kamerafrau Sophie Maintigneux, mit der die Regisseurin bereits das Pina-Bausch-Projekt „Damen und Herren ab 65“ (fd 35 891) beeindruckend umgesetzt hatte, in klare Bilder gefasst, die die Protagonisten nie ausstellen. Kein belehrender Off-Kommentar stört diesen liebevollen und behutsamen Einblick in den Alltag, die Kultur und Sprache von Gehörlosen, sodass man sich ganz auf die (untertitelte) Laut- und Gebärdensprache einlassen kann. Dass dieser Sensibilisierungsprozess so wunderbar funktioniert, liegt einerseits an Mangelsdorffs emphatischer Herangehensweise, andererseits am Charisma ihrer kleinen „Hauptdarstellerin“. Die Neugier und die Lebensfreude der am Ende der Dreharbeiten fünf Jahre werdenden Selina übertragen sich auch auf den Zuschauer, der das Kino mit dem selten gewordenen Gefühl einer inneren „Bereicherung“ verlässt.
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