Ein guter Grund, warum man sich den neuesten Teil der „Harry Potter“-Verfilmungen nicht entgehen lassen sollte: Man kann darin Thestrale sehen! Dieser exklusive, wenn auch nicht unbedingt erhebende Anblick ist normalerweise Menschen vorbehalten, die schon einmal dem Tod begegnet sind. Es handelt sich dabei um pferdeähnliche Wesen, die noch knochiger sind als das fahle Pferd auf Dürers Stich von den „Vier apokalyptischen Reitern“, pechschwarz und mit imposanten Drachenschwingen. So grimmig, wie sie aussehen, sind sie aber nicht – während andererseits die Bösen auch nicht unbedingt an einem monströsen Äußeren erkannt werden können. Darin gleicht die Welt von „Harry Potter“ dem realen Leben, auch wenn es in allen Ecken vor Magie nur so knistert. Die Thestrale dienen als Zugtiere der Kutschen, die die Schüler von Hogwarts zu Beginn des neuen Schuljahres vom Bahnhof abholen und zum Schulgebäude bringen; die meisten der Kinder und Jugendlichen können indes nur die Fahrzeuge, nicht aber die gespenstischen Zugtiere sehen. Aber wir, die Kinozuschauer! Darin liegt ein Gutteil dessen, was einmal mehr den Reiz dieses „Potter“-Abenteuers ausmacht: Zum Anfassen echt vor sich zu sehen, was sonst nur in der Vorstellung existiert, mit den Möglichkeiten zu liebäugeln, mit den Wundern einer anderen Welt. Aber auch die Chance zu haben, Ängste Gestalt annehmen zu sehen und in den Ring zu fordern, die wir sonst aus unserem Alltag weitgehend verdrängen; etwa die Angst vor dem Tod eines geliebten Menschen.
Der Tod also: Er spielt eine nicht unwesentliche Rolle in dieser fünften Adaption eines Romans aus Joanne K. Rowlings Erfolgsserie. Dass Harry zu Beginn seines neuen Schuljahres – nun schon fast ein junger Mann – erstmals die Thestrale sehen kann, hängt mit der Tragödie am Ende des vierten Teils zusammen: mit der leibhaftigen Rückkehr des dunklen Lords und der Ermordung von Harrys Schulkameraden Cedric. Von diesem traumatischen Erlebnis bleiben dem Jungen nicht nur Albträume, sondern auch der Vorsatz, seine Freunde künftig aus seinen Abenteuern herauszuhalten, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Und eine seltsame geistige Verbindung zu seinem Todfeind, die in Harry qualvolle Zweifel an seiner eigenen Identität als „Guter“ weckt. Ist er Lord Voldemort vielleicht ähnlicher als ihm lieb ist? Erschwerend kommt hinzu, dass Harry und sein Mentor, der Schulleiter Dumbledore, angesichts des wieder erstarkten Bösen keinerlei Rückhalt beim Zaubereiminister finden, denn dieser verschließt die Augen vor der bitteren Wahrheit und vermutet hinter Harrys und Dumbledores Warnungen Ränke. So entsendet er seine Sekretärin Dolores Umbridge nach Hogwarts. Diese ist übrigens ein weiterer guter Grund, sich den Film anzusehen: Imelda Staunton ist hinreißend als falsch lächelnde Bürokraten-Tyrannin, gewandet in Bindehautentzündung erregende Pink- und Violetttöne, mit einem herrlich grausamen Herzen unterm Angorawestchen. Umbridge soll in Hogwarts nach dem Rechten sehen, was jedoch in ein wahres Terror-Regime ausartet. Um dieser Peinigerin zu begegnen, sind Harry und seine Freunde auf sich gestellt. Im Kampf gegen Voldemort haben sie indes Verbündete: Den „Orden des Phönix“, eine von Dumbledore gegründete geheime Gesellschaft. Doch auch der dunkle Lord schart seine Anhänger um sich.
Von der Flut an Sequels, die seit Mai die Kinoleinwände stürmen, ist der neue „Potter“ eines der gelungendsten. Das liegt zum einen natürlich an der Buchvorlage, die eben keine nach dem Erfolg eines ersten und zweiten Teils eilig zusammengerührte, durch „production values“ aufgerüstete, inhaltlich jedoch holprige Mixtur ist, sondern eine von langer Hand entwickelte, stimmige Fortschreibung der Handlung und ihrer Akteure. Das verdankt sich aber auch Regisseur David Yates, der zusammen mit Drehbuchautor Michael Goldenberg aus dem Roman eine stimmige Spielfilmdramaturgie generierte, deren Spannungsbögen 138 Minuten lang bis zum furiosen letzten Gefecht blendend unterhalten. Jeder Fantasyfilm muss sich nicht zuletzt daran messen lassen, wie gut es ihm gelingt, die alternative Welt, die er entwirft, sinnlich erfahrbar werden zu lassen. Die neuen Möglichkeiten, die das digitale Zeitalter dem Kino dabei eröffnet hat, sind ein Segen, können aber auch zum Stolperstein werden, wenn sie ohne das nötige Gespür fürs Detail in Sterilität steckenbleiben oder aber in Effekte-Überfrachtung ausarten. Bei „Harry Potter und der Orden des Phönix“ ist dies nicht passiert. Hier gelingt der sensorische Kino-Zauber gleich von der ersten Sequenz an, in der Harry und die Zuschauer von der Hitze eine Hochsommernachmittags in die Eiseskälte eines Dementoren-Angriffs gestürzt werden. Vom Drehbuch über Slawomir Idziaks konzentrierte Kameraarbeit bis zu Nicholas Hoopers Musik greifen alle Rädchen der Inszenierung stimmig ineinander. Bedauernswert, wer diese Fähigkeit, eine fantastische Geschichte lebendig werden zu lassen, als Eskapismus verdammt, anstatt die genuin menschliche Freiheit zu genießen, über die Grenzen des Tatsächlichen hinauszuschauen; stecken doch in ihren oberflächlichen Spielereien wie in ihren tieferen Symbolen, in ihrem utopischen Potenzial immer auch Herausforderungen an die Alltagswelt. Wenn Harry Potter und seine Mitstreiter gegen die Regelfetischistin Umbridge, die Folter als Disziplinarmaßnahme einführt, und gegen Voldemort und seine Todesser den Aufstand proben, ist das kein Kampf gegen die Macht der Vernunft, sondern eine Rebellion gegen die perverse Vernunft der Macht. Insofern hat sich Harry seinen Platz als Kinoheld wie auch als jugendliches Rollenvorbild redlich verdient.