Eine Ukrainerin, die von traumatischen Erinnerungen an Misshandlungen während ihrer Zeit als Prostituierte heimgesucht wird, ergattert in Italien mit zum Teil gewalttätigen Methoden eine Stelle als Haushaltshilfe einer Familie, zu deren kleiner Tochter sie ein enges Verhältnis aufbaut. Suggestiver und großteils dichter Psycho-Thriller um eine charismatische, exzellent gespielte weibliche Hauptfigur. Zwar bleiben die sozialen Missstände, die dabei aufgegriffen werden, Prostitution und Menschenhandel, in ihrer Verortung etwas vage, was der geschickt angelegten Spannung, auch dank der beklemmenden Musik Ennio Morricones, jedoch nur wenig Abbruch tut.
- Ab 16.
Die Unbekannte (2006)
Psychothriller | Italien 2006 | 121 Minuten
Regie: Giuseppe Tornatore
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- LA SCONOSCIUTA
- Produktionsland
- Italien
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Medusa
- Regie
- Giuseppe Tornatore
- Buch
- Giuseppe Tornatore · Massimo De Rita
- Kamera
- Fabio Zamarion
- Musik
- Ennio Morricone
- Schnitt
- Massimo Quaglia
- Darsteller
- Xenia Rappoport (Irena/Die Unbekannte) · Michele Placido (Muffa) · Claudia Gerini (Valeria Adacher) · Margherita Buy (Irenas Anwältin) · Pierfrancesco Favino (Donato Adacher)
- Länge
- 121 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Psychothriller
Heimkino
Diskussion
Ähnlich wie in Giuseppe Tornatores letztem Film „Der Zauber von Malèna“ (fd 34739) steht im Zentrum von „Die Unbekannte“, mit dem der Regie-Altmeister nach etlichen Jahren Leinwand-Abstinenz ins Kino zurückkehrt, eine geheimnisvolle, schöne Frau, und einmal ist deren Schönheit mehr Fluch als Segen für sie. Während in „Malèna“ jedoch, gefiltert durch die jungenhaft-begehrliche Perspektive des Films und die über weite Strecken zärtlich-schwebende Atmosphäre der Pubertäts-Geschichte, die Tragödie der weiblichen Titelfigur nicht wirklich ausgelotet wurde, gelingt Tornatore hier nun, da er sich auf die (Innen-)Welt seiner „Unbekannten“ einlässt, ein eindringliches Porträt einer Frau, die mit eisenharter Entschlossenheit gegen innere und äußere Verletzungen ankämpft und um eine Perspektive, um eine Chance auf Glück ringt – und dabei selbst andere verletzt. Vor allem ist Tornatores Film jedoch ein dichter, geschickt erzählter Psycho-Thriller mit Hitchcock-Anklängen (was nicht zuletzt auch Ennio Morricones beklemmender, bisweilen an Bernard Herrmann erinnernder Musik geschuldet ist), der seine Suspense-Karten geschickt ausspielt. Am Beginn steht ein erniedrigender Mummenschanz, ein bisschen wie in „Eyes Wide Shut“ (fd 33836): Nackte Frauen, deren Gesichter von Masken bedeckt sind, präsentieren sich unter der Anleitung eines Zuhälters, der nur über seine Stimme anwesend ist, einem unsichtbaren Beobachter, der sie durch zwei Augenlöcher in einer Wand mustert und sich eines der Mädchen aussucht. Die Szene gehört zu den quälenden Erinnerungen, die immer wieder in unübersichtlichen Fetzen in die Gegenwart der Hauptfigur, der Ukrainerin Irena, eindringen. Die junge Frau mit dunklen Korkenzieherlocken, großen Augen und abweisendem Habitus mietet in einer namenlosen italienischen Stadt eine Wohnung und versucht, einen Job als Haushaltshilfe zu ergattern. Doch warum lässt sie sich zu denkbar ungünstigen, an Sklaverei grenzenden Bedingungen vom Hausmeister als Arbeitskraft weitervermitteln, wenn sie doch, wie man sieht, über nicht unbeträchtliche Geldbeträge verfügt? Und warum liegt ihr so viel daran, gerade bei einer ganz bestimmten Familie eingestellt zu werden, dass sie sogar deren freundliche Zugehfrau die Treppe hinunterstößt, um dafür zu sorgen, dass der Posten frei wird? Und was für eine Rolle spielen dabei ihre Erinnerungen an die sexuellen Misshandlungen, die sie als Prostituierte erleiden musste? Puzzlestück für Puzzlestück involviert einen der Film in das Schicksal seiner widersprüchlichen, enigmatischen Heldin, bis sich schließlich ein äußerst schmerzliches Bild ergibt.
Tornatore entfaltet sowohl mit den Mutmaßungen der Zuschauer als auch mit den Protagonisten, die sich immer wieder gegenseitig belauern und beobachten, ein düsteres Katz-und Maus-Spiel, assistiert von seiner großartigen Hauptdarstellerin Xenia Rappoport, die die Geheimnisse ihrer Figur hütet und den Zuschauer trotzdem emotional gefangen nimmt, auch wenn man sie lange Zeit nicht verstehen kann. „Ich dachte, ich hätte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen, aber meine Vergangenheit hat nicht mit mir abgeschlossen“, sagt Irena einmal. Und damit hat sie mehr Recht, als ihr selbst zunächst klar ist. Mit seinem bemerkenswerten Darstellerensemble (u.a. einem suggestiv schurkischen Michele Placido als Irenas Nemesis) und der geschickten Kameraarbeit von Fabio Zamarion entwirft Tornatore eine weitgehend unbewohnbar wirkende, winterlich kalte Welt, durch die Irina mit schwarzem Mantel und hochgeschlagener Kapuze, gleichzeitig kindlich-fragil und düster wie ein Racheengel, irrt. Einzig die Wohnung der Familie Adacher, für die sie bald tatsächlich als Haushaltshilfe und Kindermädchen arbeiten darf und zu deren kleiner Tochter sie langsam eine intensive Beziehung aufbaut, scheint eine alternative Lebenswelt zu bieten und zieht Irena magisch an.
Wenn sich schließlich alle Puzzleteilchen ineinander gefügt haben (und das tun sie, dank des guten Drehbuchs, auf überzeugende Weise), bleibt als kleine Schwäche des Films nur zu bedauern, dass die sozialen Missstände und Ausbeutungsmechanismen, die Tornatore hier angreift, arg im Vagen bleiben. Als sinistres Spannungskino um eine charismatische Frauenfigur ist der Film indes sehr überzeugend.
Kommentar verfassen