Ein dunkelhaariges Mädchen sitzt in einer alten Hotelsuite am Rand des Doppelbettes und sieht fern. Eine Träne fließt aus ihrem Auge. Im Fernsehen läuft eine merkwürdige Soap mit drei Figuren im Menschenkostüm und mit Hasenköpfen. Man sieht eine Nadel in einer Schallplattenrille und den Strahl eines Aufnahmescheinwerfers. Eine andere Frau, blond und nicht mehr ganz jung, empfängt in der riesigen Eingangshalle ihres Hauses eine ältere Frau, offenbar ihre neue Nachbarin. Bald wendet sich der belanglose, etwas aufdringliche Small Talk der Alten ins Unangenehme. Offenbar weiß sie viel zu viel über das Leben ihrer Gastgeberin, und ungebeten beginnt sie, dieses zu kommentieren, spricht mit ihrem osteuropäischen Akzent bedrohliche Prophezeiungen aus – eine Hexe möglicherweise.
Mit diesen rätselhaften Szenen, wie sie für David Lynchs Kino so typisch sind, beginnt der Film: Beklemmend und voller Verführungskraft reißen sie den Betrachter hinein in den Kosmos dieses bahnbrechenden Kinokünstlers. Und es beginnt eine verschlungene Story, die das Doppelgängermotiv mit dem „Film im Film“-Genre zu einem modernen Märchen verknüpft – poetisch und brutal. Wie in fast allen seinen Filmen seit „Blue Velvet“
(fd 26 040) steht auch diesmal eine „Woman in Trouble“ im Zentrum. Es ist die Blonde vom Anfang, eine einst erfolgreiche Schauspielerin. An der Oberfläche erzählt „Inland Empire“ die Geschichte der mit einem reichen, gewalttätigen Polen verheirateten Aktrice Nikki, die der Film auf einer Reise zwischen Albtraum und Idylle, Wunsch und Wahn begleitet. Ein alt gewordenes Schneewittchen, das auf der Flucht vor der Wirklichkeit unter anderem auch bei sieben Huren Trost findet. In ihrem neuen Projekt verkörpert Nikki unter einem von Jeremy Irons gespielten Regisseur eine Ehebrecherin, und ihr Gatte hat Angst, sie könne auch im echten Leben etwas mit ihrem Co-Star Devon anfangen. Er bedroht den Schauspieler. Zudem sorgt eine mysteriöse Vorgeschichte für Spannung: Der Film ist das Remake eines Scripts, dessen frühere Verfilmung durch den Tod der beiden Hauptdarsteller abgebrochen wurde. Und Nikki wird mehr und mehr eins mit ihrer Rolle, der fremdgehenden Sue.
Im Folgenden vermischen sich die verschiedenen Erzählebenen, weitere werden geöffnet. Was Wirklichkeit und was Traum, was Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft ist, wird zunehmend ununterscheidbar. Das soll so sein, denn Lynch geht es nicht um Geschichten und Sinngebung im herkömmlichen Verständnis. Seine assoziative Methode benutzt die Mittel des Erzählkinos nur noch, um dieses ad absurdum zu führen. Immer wieder hält er dem Betrachter die Illusion als das Wesen der Kunst vor Augen; in einer Doppelbewegung zieht er einen in eine Szene hinein und stößt einen zugleich zurück. Wie schon in „Mulholland Drive“
(fd 35 220) bildet Hollywood dabei die eigentliche Folie, vor deren Hintergrund man den Film zu verstehen hat. „Inland Empire“ öffnet sich zu einem Reflexionsraum über das Kino und korrespondiert dabei mit anderen US-Filmen der letzten Monate, mit dePalmas unterschätztem „The Black Dahlia“
(fd 37 816) und mit „Hollywoodland“
(fd 38 041). Auch „Inland Empire“ zeigt das Kino als Gewaltzusammenhang, handelt von der Gewalt, die durch Mythen produziert wird, und von den Mythen der Gewalt. Wie sie entfaltet er Hollywood als Hölle, als Schauplatz einer inneren Apokalypse. Das strukturierende Leitmotiv, immer latent mitschwingend, manchmal ganz explizit alles durchdringend, ist die Gewalt gegen Frauen. Wichtiger als der Inhalt ist hier aber die Methode. In seiner Erzählweise und in den schmutzig-grauen, grobkörnigen Bildern liegt „Inland Empire“ nahe am Experimentalfilm. Stilistisch lässt sich das Ergebnis wohl auch aus der Tatsache erklären, dass hier ein Regisseur zum ersten Mal mit DV-Kamera gearbeitet hat und mit dieser Technik zum Teil einfach nicht zurechtkam. Die Bilder sind hässlich, oft grobkörnig und verwaschen; ihnen fehlt ein großer Teil des visuellen Zaubers und der bildlichen Traumqualität, der Lynchs Kino immer essenziell war. Auch die offenbar vorhandene Überfülle des Materials hat Lynch nicht ganz unter Kontrolle bekommen – der Film ist zu lang, ihm fehlen Konzentration und Disziplin. Nach dieser Feststellung ist allerdings viel interessanter, warum der Film dessen ungeachtet geglückt ist: Mit seinem barocken, schwerblütigen, kathartischen, albtraumhaften Trip ins Innere des Kinos, ins Reich seiner Symbole und seiner Psychoanalyse, bewegt sich Lynch weg von seinen letzten, eher klassisch erzählten Filmen, zurück zu seinen Anfängen und zu den frühen 1990er-Jahren, als er mit „Wild at Heart“
(fd 28 529) und der TV-Serie „Twin Peaks“ auf den Spuren der Gebrüder Grimm wandelte – moderne Mythologie und surreales Endzeitszenario, in dem alles aus den Fugen ist. Im Gegensatz zu jenen Regisseuren, die ihr Kino als Sinnstiftung und Harmonisierungsunternehmen begreifen, die die vielen Betrachtungsweisen der Zuschauer zu einer zu integrieren suchen, will Lynch verunsichern, Sinnangebote infrage stellen, Dissonanzen erzeugen, Wahrnehmung multiplizieren. Seine wichtigste Zielgruppe ist auch hier die bürgerliche Mitte der Gesellschaft mit ihrem spezifischen Sicherheitsgefühl und ihren unterdrückten Seiten, ihrem Konservatismus und latenten Puritanismen, eine Doppelmoral, die Gewalt und Sexualität verdrängt.
Dies ist aber auch ein Film, der einen daran erinnert, dass man, um die Wirklichkeit zu erschüttern, diese erst einmal anerkennen muss. Und genau das lässt Lynch vermissen. Wie andere postmoderne Filmemacher geht er in die eigene, selbstwidersprüchliche Falle: Er will zeigen, dass die Welt nicht so ist, wie sie scheint, dass „Wirklichkeit“ ein Fantasma ist. Aber er kann das nicht tun, wenn er dem Zuschauer schon vorher deutlich zu verstehen gibt, dass er an Wirklichkeit sowieso nicht glaubt. Wenn das Kino von Anfang an Schein ist, kann es mit der Offenbarung, dass alles nur Schein ist, keinen Eindruck mehr schinden.