Dokumentarfilm über Menschen in der brasilianischen Stadt Baixada Flumeniense, zwei Wochen nach einem von einer Todesschwadron begangenen Massaker. Die sperrige Suche nach Antworten erhellt durch ihre fragmentarische Struktur eine in ihren Gewaltritualen erstarrte Welt, die dringend der inneren Aussöhnung harrt. (O.m.d.U.)
Atos dos Homens
Dokumentarfilm | Brasilien/Deutschland/Niederlande 2006 | 75 Minuten
Regie: Kiko Goifman
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Filmdaten
- Originaltitel
- ATOS DOS HOMENS
- Produktionsland
- Brasilien/Deutschland/Niederlande
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Paleo TV/Plateau/Colores/Cachoeira
- Regie
- Kiko Goifman
- Buch
- Kiko Goifman
- Kamera
- Diego Gozze
- Schnitt
- Diego Gozze · Patricio Salgado
- Länge
- 75 Minuten
- Kinostart
- -
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Der Blick fällt aus dem Flugzeugfenster auf das wogende Häusermeer weit unten, während der Kapitän einen heißen Tag in Rio de Janeiro verspricht. Doch von der olympischen Perspektive bleibt in dem Dokumentarfilm von Kiko Goifman schon dann nichts mehr übrig, wenn die Kamera auf einen Pferdewagen durch die zersiedelte Gegend ruckelt und eine halbe Stunde lang den unterschiedlichsten Menschen aus Baixada Fluminense begegnet, einem Dreieinhalb-Millionen-Flecken unweit von Rio de Janeiro. Zwei jugendliche Musiker proben einen Love Song; ein Klatschreporter führt in einen Club der Reichen; in einer Radiostation geraten zwei Journalisten aneinander, ein schlohweißer Alter verkündet mit jeder Faser seines Daseins: „Jesus Christus voltará“, Jesus wird wiederkommen. Lauter namenlose Alltagsgestalten, zu denen auch ein Transvestit und ein verknitterter Pressefotograf zählen, die links und rechts des Dutra-Highways ein mäßiges Auskommen gefunden haben. Brisant werden diese prosaischen Splitter erst durch ihre zeitliche Verknüpfung mit einem Verbrechen, bei dem zwei Wochen vor den Dreharbeiten 29 Menschen scheinbar willkürlich auf der Straße ermordet wurden: Biker, Stricher, Nutten und Dealer. Wenn die Angehörigen, zumeist Mütter, Schwestern, Frauen, über das Massaker sprechen, bleibt die Leinwand weiß; man hört nur ihre relativ gefassten Berichte und Gedanken aus dem Off. Mit einer ähnlichen Verfremdung hatte der Film eröffnet, wobei der Akzent dort noch auf der Unsichtbarkeit der Menschen am Rande der ausfransenden Mega-Citys lag. Hier nun spürt man auch tiefe Angst und Verzweiflung, denn bei den Killern handelte es sich offenkundig um Mitglieder der Militärpolizei. Obwohl Mord und Totschlag in Baixada nichts Außergewöhnliches sind – auch die Kamera war zuvor an den Tatort eines Verbrechens geeilt, wo sich Konturen eines Erstochenen unter einer dunklen Decke abzeichneten –, erregte diese Bluttat landesweit Aufsehen. Als Täter werden elf Angehörige der Polizei verhaftet, die nach einem vergnüglichen Bar-Besuch gemeinsam mordend durch die Straßen fuhren.
Die Rede von Todesschwadronen macht die Runde, Killerkommandos in Uniform, die mit Wissen oder Duldung ihrer Vorgesetzen der Oligarchie zuarbeiten. Viele Menschen in Baixada bewegt die Frage, was der Auslöser des Verbrechens gewesen sein könnte, nur wenige spekulieren über strukturelle Motive. Der Film verfolgt zwei Fährten. Die eine führt in die Vergangenheit und rekapituliert die Genese der Stadt, die in den 1950er-Jahren noch eine Orangenplantage war. Aus ersten wilden Hütten landflüchtiger Arbeiter entstand binnen weniger Jahrzehnte eine amorphe Mega-Siedlung, die mit der Vorstellung gewachsener Städte europäischen Zuschnitts absolut nichts gemein hat – was sich schmerzhaft im Fehlen einer funktionierten Judikative manifestiert.
Die andere Spur zielt ins moralische Zentrum der brasilianischen Gegenwart: Wir selbst, die Gesellschaft, legitimieren insgeheim die selbsternannten Henker und ihre Taten, die heimlich oder unbewusst als notwendig erachtet werden, argumentiert Goifman. Wie zum Beweis gelingt es ihm, einen Killer anonym vor die Kamera zu bekommen, der sich freimütig im Off dazu bekennt, den Abschaum von der Straße zu fegen und dadurch für Ordnung zu sorgen. Die unverblümte Mord-Rede im selbstgefälligen brasilianischen Idiom bildet das spekulativ-spektakuläre Glanzstück einer ratlosen Recherche, die auf der Suche nach dem brasilianischen Alltag ins gewaltsame Zentrum einer hierarchischen Welt gestoßen ist, ohne einen Ausweg zu finden; denn das Denken in Unter- und Überordnungen scheint bis in die lausigste Hütte hinein tief im brasilianischen Bewusstsein verwurzelt zu sein. Goifmans sperriger, mitunter schwer zugänglicher Film erhellt gerade durch seine fragmentarische Struktur eine in ihren Gewaltritualen erstarrte Sozietät, die dringend der inneren Aussöhnung harrt. Denn auch über die politischen Implikationen des Massakers gibt sich der Film keinen Illusionen hin: Die Logik der Todesschwadrone, schon längst Teil des System, entfaltet als manifeste Größe eine umso größere Wirksamkeit. Zusammen mit der kollektiven Verdrängungsleistung, die es individualpsychologisch erst möglich macht, eine so extreme Infragestellung wie ein Massaker zu kompensieren, tendiert sie so auf Dauer zur offenen gesellschaftlichen Legitimierung.
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