Der ebenso informative wie unterhaltsame Dokumentarfilm über das Phänomen der "Midnight Movies" zeichnet anhand der Ästhetik und Rezeption von sechs Filmen der 1970er-Jahre ein Kinophänomen nach: In Spätvorstellungen wurden in kleinen unabhängigen Produktionen alle Tabus der Filmkunst durchbrochen, die eine im Aufbruch begriffene Jugendkultur als Gegenreaktion auf die Werte der Eltern zelebrierte. Das rituelle Sehen wird dabei als Schlüsselfaktor für den Erfolg der trashigen Nischenfilme identifiziert.
Midnight Movies
Dokumentarfilm | USA/Kanada 2005 | 86 Minuten
Regie: Stuart Samuels
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- MIDNIGHT MOVIES: FROM THE MARGIN TO THE MAINSTREAM
- Produktionsland
- USA/Kanada
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Starz Ent./Stuart Samuels Prod.
- Regie
- Stuart Samuels
- Buch
- Stuart Samuels
- Kamera
- Richard Fox
- Musik
- Eric Cadesky · Nick Dyer
- Schnitt
- Michael Bembenek · Robert J. Coleman · John Dowding · Lorenzo Massa · Kevin Rollins
- Länge
- 86 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Seit mehr als zwei Jahrzehnten bildet sich in Cambridge samstags zur Geisterstunde eine Schlange vor dem Kino in der Church Street, gleich um die Ecke der renommierten Harvard Universität. Das hier gezeigte trashige Musical „The Rocky Horror Picture Show“ (fd 20 807) ist in vielerlei Hinsicht ein Paradebeispiel für ein rituell ausgerichtetes Sehen. Der Film lebt nämlich nicht nur von der sinnlichen Erfahrung der Bilder und Klänge, sondern spielt insbesondere im gemeinschaftlichen Erlebnis des Kinobesuchs seine Reize aus. „The Rocky Horror Picture Show“ gehört zu einer Reihe von kleinen, zumeist unabhängigen Filmproduktionen, die außerhalb des kommerziellen Hollywood-Systems entstanden. Ihr gemeinsamer Nenner bildet weniger ein Genre. Den eigentlichen Attraktionswert bestimmte der Zeitpunkt ihrer Aufführung: die Spätvorstellung nach Mitternacht. Hier laufen keine aufwändigen, technisch ausgefeilten Filme mehr, die den traditionellen Ansprüchen der etablierten Unterhaltungskultur Rechnung tragen. Die Platzierung spielt mit dem Hauch des Außergewöhnlichen, Gefährlichen und Verbotenen. Diese Nische entwickelte sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda schnell zu einem skurrilen Publikumsrenner, die dargebotenen Filme avancierten nicht selten zu Kultklassikern.
Basierend auf seiner bereits1983 publizierten gleichnamigen Studie von J. Hoberman und Jonathan Rosenbaum zeichnet Regisseur Stuart Samuels die Geschichte der „Midnight Movies“, wie sie bald genannt wurden, unter popkulturellen Gesichtspunkten nach. Im Vordergrund stehen dabei sechs Klassiker und deren Macher: Alejandro Jodorowskys „El Topo“ (1970, fd 19 278), George A. Romeros „Die Nacht der lebenden Toten“ (1968, fd 17 343), Perry Henzels „The Harder They Come“ (1972), John Waters „Pink Flamingos“ (1972, fd 22 190), Jim Sharmans „The Rocky Horror Picture Show“ (1974) und David Lynchs „Eraserhead“ (1977, fd 22 752). Die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre markierten dabei einen Wendepunkt in der amerikanischen Kultur, die auch in der Filmästhetik tiefe Spuren hinterließ. Parallel zu der Aufbruchstimmung des New Hollywood entstanden eigenwillige Produktionen, die den Zeitgeist einer revoltierenden, von den Idealen ihrer Eltern entfremdeten Jugend einfingen und ihm ein filmästhetisches Ventil verschafften. Im Zentrum standen Tabubrüche. Schockkultur, Exzess, Gewalt, sexuelle Transgressionen und eine grundsätzliche Heroisierung dessen, was der vorangehenden Generation als Geschmacksverirrung oder gar als Perversion erschienen war. Trash wurde Kult, Pop und Pulp Kunst, Ironie und Persiflage avancierten zum verbindlichen Ausdruck eines Lebensgefühls. Zunächst fehlten Begrifflichkeiten, um die an verschiedene Genres angelehnte Filme wie „El Topo“ zu charakterisieren. Eine Zeitung sprach von einem „Zen-Buddhistischen Slapstick-Spaghetti-Western“ oder „Siddharta auf Ecstacy“. Angesichts inflexibler Strukturen in Hollywood öffnete sich der Markt für „Midnight Movies“. Sie kamen nicht nur aus den USA, sondern auch aus Jamaika, Mexiko oder Kanada.
Der Erfolg des „Midnight Movies“-Phänomens lässt sich nur erklären, wenn man die Stimmung während der Aufführungen versteht. Regisseur Samuels stellt daher immer wieder legendäre Aufführungsorte wie z.B. das Elgin-Kino in New York in den Vordergrund seiner Dokumentation. Die befreiende Wirkung, über die Tabus der Vergangenheit zu lachen, überzogene Gewalt als spielerische Selbsterfahrung zu zelebrieren und alternative sexuelle Lebensentwürfe zumindest im Kino zum letzten Schrei der Popkultur zu erheben, entfaltet sich im Ritual des gemeinsamen Filmerlebnisses. Samuels verschafft neben den Machern der „Midnight Movies“ unter anderem auch Filmkritikern wie Roger Ebert, den Filmwissenschaftlern J. Hoberman und Jonathan Rosenbaum sowie dem „Rocky Horror“-Produzenten Lou Adler als Zeitzeugen Gehör. Daraus entsteht eine gleichsam informative wie unterhaltsame Dokumentation. Die abwechslungsreiche Montage von Sequenzen und Interviewausschnitten profitiert von den bizarren Bildern und der oft exzentrischen Selbstdarstellung ihrer Regisseure. Angesichts der allgemeinen Kinomüdigkeit der Gegenwart, die unter anderem der ausgefeilten Unterhaltungselektronik in den eigenen vier Wänden geschuldet ist, könnte die Rekonstruktion des „Midnight-Movies“-Phänomens der gebeutelten Industrie eine interessante Alternative eröffnen. Denn gerade die sinnliche Erfahrung des Raums und gemeinsam erlebten Schocks, Trashs oder absurder Komik lassen sich nicht im kontrollierten Umfeld des perfekten Heimkinos machen. Das wissen auch jene Besucher am Harvard Square, die sich kostümiert und mit allerlei filmrelevanten Accessoires im Kino bei der „Rocky Horror Picture Show“ ausleben wollen.
Kommentar verfassen