Drama | Frankreich/Israel/Brasilien/Italien 2004 | 149 Minuten

Regie: Radu Mihaileanu

Durch eine humanitäre Aktion, mit der Israel Mitte der 1980er-Jahre äthiopische Juden aufnahm, überlebt ein christlicher Junge, indem er sich auf Geheiß seiner Mutter unter die Exilanten mischt und als Jude ausgibt. Der in drei Kapitel gegliederte Film begleitet seinen Protagonisten über einen Zeitraum von 20 Jahren und stellt Fragen nach Identität und Heimatlosigkeit. Dabei werden auch Themen wie Migration, Vertreibung und Rassismus angesprochen. Der Film will großes Gefühlskino sein, verliert in der Überfülle seiner Episoden und Ereignisse aber bisweilen den dramaturgischen Faden und ist mitunter auch nicht frei von zuviel Pathos. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
VA, VIS ET DEVIENS | VAI E VIVRAI
Produktionsland
Frankreich/Israel/Brasilien/Italien
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Elzévir Films/Oï Oï Oï Prod./Cattleya/K2 SA/Transfax Film/France 3 Cinéma
Regie
Radu Mihaileanu
Buch
Alain-Michel Blanc · Radu Mihaileanu
Kamera
Rémi Chevrin
Musik
Armand Amar
Schnitt
Ludo Troch
Darsteller
Yaël Abecassis (Yaël Harrari) · Roschdy Zem (Yoram Harrari) · Moshe Agazai (Schlomo als Kind) · Moshe Abebe (Schlomo als Teenager) · Sirak M. Sabahat (Schlomo als Erwachsener)
Länge
149 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
„Va, vis et deviens“ heißt Radu Mihaileanus Film im Original, der das Schicksal äthiopischer Juden anhand der Geschichte eines Jungen erzählt: Geh, lebe und werde. Wie aber kann man wissen, wohin man gehen soll, wenn man nicht sagen darf, woher man kommt? Wie kann man dann werden? Und vor allem was? In drei Etappen beschreibt der rumänisch-französische Regisseur die ersten 20 Jahre des Äthiopiers Salomon, der – wie andere 8.000 Juden – Mitte der 1980er-Jahre durch die von Israel und den USA initiierte „Operation Moses“ über den Sudan nach Israel gelangt. Im Gegensatz zu vielen anderer Flüchtlinge überlebt er die qualvoll-gefährliche Reise durch die verschiedenen Auffanglager und landet in Tel Aviv. Vor Hunger und Krankheit wird er nur gerettet, weil er sich als Jude ausgibt; denn er ist, wie seine Mutter, die ihn aus Sorge und Liebe fortschickt, ein Christ. An Stelle des kürzlich verstorbenen Sohns einer äthiopischen Jüdin steigt er ins Flugzeug ins Gelobte Land. Salomon ist nicht der richtige Name des Jungen. Wie er eigentlich heißt, bleibt bis zuletzt im Dunkeln. Dass der Film seinen wirklichen Namen verschweigt, ist bezeichnend, muss der Junge fortweg doch verschiedene Rollen annehmen und kann kaum als selbstbewusstes Individuum auftreten. Zumindest anfangs bestimmen ausschließlich äußere Faktoren sein Leben. Erst schickt ihn seine Mutter fort, dann ist er der Willkür der Behörden ausgeliefert und muss bald ein strenges Internat besuchen, bis er von einer israelischen Familie adoptiert wird, die wie alle anderen genau zu wissen glaubt, wer er ist und was das Beste für ihn sei. Erst nach einiger Zeit bekommt er im Film eine eigene Stimme und beginnt, von seinen Gefühlen zu erzählen. Vorher weiß er seine Integrationsprobleme nur durch Essensverweigerung und totale Ablehnung der Mitmenschen auszudrücken. Salomon ist hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Identitäten. Einerseits ist er Äthiopier und Christ, andererseits fühlt er sich allmählich auch in Tel Aviv wohl und irgendwie auch als Jude, gewinnt sogar ein Streitgespräch über die Tora. Im Krieg will er ein palästinensisches Kind retten, wofür er von seinen Kameraden gescholten wird; im Alltag wird er vom Vater seiner jüdischen Freundin abgelehnt, weil er aus Afrika kommt – denn schwarze Juden gibt es nicht. Ständig ist er auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft, nirgendwo fühlt er sich willkommen, geborgen oder geliebt. Ein Schicksal, das in der Gegenwart, in der fortlaufend alte Strukturen aufgebrochen, verändert oder aufgelöst werden, viele Menschen erleiden. Dass es Mihaileanu nicht nur um die Frage nach der jüdischen Identität geht, sondern um ein existenzielles Gefühl von Heimatlosigkeit, wird bald deutlich – umso mehr, wenn man „Geh und Lebe“ mit seinem letzten Film „Zug des Lebens“ (fd 34 156) vergleicht. Gibt sich Salomon hier als Jude aus, um die düsteren Umstände zu überleben, mussten die jüdischen Dorfbewohner dort ihren Glauben verleugnen, um durch eine Selbstdeportation den Nationalsozialisten zu entkommen. Die Notlüge, die 1984/85 vor dem Tod bewahrt, hätte während des Zweiten Weltkriegs unweigerlich ins Verderben geführt. Dies ist freilich nur der Aufhänger der Geschichten, geht es im Grunde um die Suche von Menschen nach ihrem Ursprung und einer stabilen Identität. In beiden Filmen sind die Figuren auf Reisen, zählt der Weg mehr als das Ziel. Mihaileanu verhandelt auf verschiedenen Ebenen die Frage der Identität, stellt sie als nahezu unlösbar aus. Wobei er sich weniger bekannter Argumente bedient, sondern das komplexe Thema durch Gefühlsbeschreibungen zu veranschaulichen versucht, was man gelegentlich als zu pathetisch kritisieren könnte (etwa die sehnsuchtsvoll-schwermütige Musik) – doch gerade dadurch vermitteln sich der Schmerz des Protagonisten, seine Sehnsucht nach Geborgenheit und sein Leiden an deren möglicher Unerfüllbarkeit. Im Vergleich zu „Zug des Lebens“ zeugt „Geh und Lebe“ weit direkter von der Tragik des menschlichen Schicksals; nur in wenigen Momenten erheitern witzig-komische Dialoge oder Gesten den Zuschauer. Und doch lassen sich, trotz aller fatalen Umstände, auch hier positive Elemente finden: Schließlich erfährt Salomon durch seine drei Mütter, die ihn während der jeweiligen Lebensabschnitte begleiten – eine, die ihn wegschickt, eine, die ihn rettet und eine, die ihn aufnimmt –, viel Liebe, durch die er Kraft und Energie gewinnt. Für diese ambivalente Weltsicht zwischen existenzieller Düsterheit und andauerndem Sonnenschein findet Mihaileanu ein nachhaltiges Bild, das ebenso wie das der fabulierenden Zuginsassen in Häftlingskleidung in „Zug des Lebens“ am Ende erscheint und ähnlich verstörend wirkt: Als der verlorene Sohn nach mehr als 20 Jahren wieder in die Arme seiner ursprünglichen Mutter in Äthiopien sinkt, stößt diese einen gellenden Schrei aus, der sich weder eindeutig als Ausdruck von Freude noch von Schmerz interpretieren lässt. Plötzlich wird klar, dass die Geschichte der zurück gelassenen Mutter gar nicht vermittelt wurde – oder aber, im Gegenteil, fortwährend im Raum schwebte.
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