Die Erde bebt, die Dämme bersten, die Sintflut bricht sich ihre Bahn. Nichts erscheint ungewöhnlich an diesem Aufbäumen der Natur, das 1974 auf dem Höhepunkt des Katastrophenfilms in die Kinos kam und den Untergang als Dutzendware feilbot, nichts außer seinem Schauplatz: Es war Hollywood selbst, das von den Produzenten dem Kommerz geopfert wurde, und schon damals rätselten die Rezensenten, wie viel Selbstkritik in dieser Entscheidung verborgen lag. Vielleicht trieb die Studiobosse tatsächlich das schlechte Gewissen um. Schule machte „Erdbeben“
(fd 19 166) jedoch nicht im Mainstream Hollywoods, sondern nach einer Schamfrist von knapp zwei Jahrzehnten im amerikanischen Autorenkino: episodisch verschachtelte Erzählungen, eine unheilschwangere Atmosphäre und dazu viele Stars, die ein Ensemble von gesellschaftlichen Stellvertretern bilden. Das dramaturgische Prinzip des Katastrophenfilms kehrte zunächst in Lawrence Kasdans „Grand Canyon“
(fd 29 485) wieder, dann bei Altmans „Short Cuts“
(fd 30 588) und Andersons „Magnolia“
(fd 34 178) – und nun in „L.A. Crash“, dem Debütfilm von Paul Haggis. Gemeinsam ist allen Werken die urbane Bühne von Los Angeles, und zumindest bei Altman und Anderson ist die apokalyptische Drohgebärde offensichtlich. Ersterer ließ noch einmal die Erde beben, letzterer Frösche vom Himmel fallen.
Haggis knüpft eher bei Kasdan an und schöpft aus seinem Drehort eine vorwiegend säkulare Kraft. Für ihn ist Los Angeles eine Metapher des im Hollywood-Kino und in der amerikanischen Gesellschaft ausgeblendeten Teils der Wirklichkeit. Nicht von ungefähr beginnt sein Film mit einer bewusst gewählten Unschärfe. Man ist solange daran gewöhnt, die Umgebung von Hollywood als erweiterte Kulisse der Traumfabrik zu sehen, dass die Realität der Stadt ins Unwirkliche verschwimmt. Allerdings bringt Haggis' Schärfenregulierung nur eine eigene Spielart von Klischees hervor. Anfang und Ende seines Films über alltägliche Gewalt, Intoleranz und der Suche nach Erlösung markiert der titelgebende Autounfall auf einem Highway. Dazwischen ist der „Clash of Civilizations“ zu naturalistischen Bildern geronnen, wie sie gröber gerastert kaum sein könnten.
Die Abfolge sich gegenseitig aufschaukelnder Episoden beginnt mit dem Auftritt zweier Afro- Amerikaner. Sie debattieren darüber, ob ihre erfolglose Wartezeit in einem Restaurant als Ausdruck von Rassismus oder als normales Kundenschicksal aufzufassen sei. Als eine Passantin ängstlich vor ihnen zurückweicht, schließt sich ein Lamento über „weiße“ Stereotypen an, mit denen alle „Schwarzen“ zu Verbrecher abgestempelt würden. Als Conclusio ihrer Erörterung ziehen die beiden ihre Pistolen, überfallen ein „weißes“ Pärchen und brausen in dessen Luxuslimousine davon. Ähnlich überpointiert geht es weiter, auch wenn es graduelle Unterscheide zwischen den Konstellationen gibt: Ein frustrierter Streifenpolizist demütigt bei einer Verkehrskontrolle ein wohlhabendes afro-amerikanisches Ehepaar und rettet wenige Stunden später die Ehefrau aus einem explodierenden Autowrack; ein pakistanischer Einzelhändler bewaffnet sich gegen die Kriminalität der Nachbarschaft und wird beinahe selbst zum Mörder; einem von Tony Danza dargestellten Sitcom-Star ist eine „farbige“ Nebenfigur nicht stereotyp genug; der oberste Staatsanwalt beugt das Recht nach Maßgabe der Political Correctness. Es herrscht die Devise „jeder gegen jeden“, und selbst wohlmeinende Charaktere werden durch die ausweglos erscheinenden Verhältnisse korrumpiert.
Es gibt Regisseure wie John Sayles, denen die Erzählform des kunstvoll verwobenen Ensemblefilms im Blut zu liegen scheint. Doch nicht jeder, der sich zum großen Gesellschaftspanorama berufen fühlt, ist mit dem entsprechenden Talent gesegnet. Haggis hat sich seine Meriten bislang als Drehbuchautor und als Entwickler von Fernsehserien verdient; er bringt zwar ein gerütteltes Maß an Ernsthaftigkeit auf, doch ertränkt er sein alle Klassen und Rassen abdeckendes Personal geradezu in Ambition. Schon als Autor von Clint Eastwoods „Million Dollar Baby“
(fd 36 951) scheute er weder Klischees noch Sentimentalität, um zum emotionalen Kern der Dinge vorzustoßen. Allerdings fand der Stoff dort einen klassischen Regiestil als Korrektiv. In „L.A. Crash“ laufen die einzelnen Handlungsstränge dagegen wie in der Schluss folge einer pompösen Miniserie zusammen, als Klimax ohne jede Vorgeschichte. „Ich glaube“, sagt eine der Figuren nach dem Unfall, „wir vermissen die menschliche Berührung in dieser Stadt so sehr, dass wir ineinander krachen, nur um überhaupt etwas zu spüren.“ Auch wenn Haggis diese Worte bitter ernst nimmt, liefert er mit seiner Drive-By-Dramaturgie weniger einen sozialen Kommentar als Einblicke vom Beifahrersitz der Filmgeschichte.