Bewaffnete Geiselnahme ist auch für Polizisten eine Ausnahmesituation, die man jedoch durch rationale Professionalität und psychologisches Gespür kommunikativ auflösen zu können glaubt. Analog zum Geiselnehmer schwingt sich in „Hostage“ der erfolgsverwöhnte Verhandlungsführer, kurz „Negotiator“ genannt, zum Herrn über Leben und Tod auf. Jeff Talley sieht dabei wie ein Westcoast-Späthippie mit einem ordentlichen Drogenproblem aus und agiert am Tatort mit lässiger Abgebrühtheit. Solche Hybris bestraft das Leben: Eine günstige Gelegenheit zum Zugriff – „Hostage“ macht früh klar, dass bei Geiselnahmen die Vor- und Nachteile oft in Sekundenschnelle bewertet und Entscheidungen gefällt werden müssen – lässt Talley verstreichen. „An diesem Tage wird es hier keine Toten geben“, schreibt er auf ein Schild. Doch dann reißt der Kontakt zum Täter plötzlich ab, es kommt zur Katastrophe. Als Talley seine Hände ins Blut eines getöteten Kindes taucht, zeigen ihm die Blicke seiner Kollegen, wen sie für das Geschehen verantwortlich machen.
Ein Jahr später sieht Talley nicht mehr wie ein derangierter Popstar, sondern eher wie ein glattrasierter, in Form gebrachter Bruce Willis aus. Dafür hat er mittlerweile Ehe- und Familienprobleme, wirkt stets gut gelaunt, scheut aber davor zurück, Verantwortung zu übernehmen. Bis ein neuerliches Verbrechen den alten Schwung in Talleys Leben zurück bringt. Drei juvenile Delinquenten, das Großmaul Dennis, dessen eigentlich grundguter Bruder Kevin und der sinistre Bösewicht Mars, bemerken zunächst den Cadillac des Buchhalters Walter Smith und dann dessen Tochter,und beschließen, ihre unterschiedlichen Wünsche gewaltsam Wirklichkeit werden zu lassen. Sie folgen der dreiköpfigen Familie des Witwers das Tal hinauf bis zu ihrer festungsartigen, mit allen Extras modernster Technologie ausgestatteten Villa in den Bergen. Die Zufälligkeit, mit der die Smiths Opfer eines Verbrechens werden, korrespondiert mit der imposanten Sicherheitsarchitektur ihres Anwesens: „Fucking Rich People“ – diese Phrase hört man in „Hostage“ gleich mehrfach. Allerdings bezieht der Film keine Stellung: Erkundet die Kamera zunächst durchaus beeindruckt all die technologischen und architektonischen Raffinessen des Hauses, wird dessen Zerstörung später ebenso lustvoll ausbuchstabiert. Zunächst aber eskaliert die Situation im Haus, als die durch eine stille Notrufverbindung alarmierte Polizei viel zu schnell vor Ort ist. Mars tötet kurzerhand eine Polizistin und eröffnet das Feuer auf deren Kollegen. Talley übernimmt zunächst die Koordination vor Ort und stellt Kontakt zu den Tätern her.
In diesem Moment zeigt sich, was Regisseur Florent Emilio Siri an diesem Stoff interessiert haben mag, denn wie bereits bei seinem fulminanten Vorgänger „Das tödliche Wespennest“ (2002) liebt er es, Grenzen zu verwischen und Konfliktsituationen zu verdoppeln bzw. dialektisch zu spiegeln. Der harmlose Walter Smith ist nämlich nur oberflächlich harmlos, de facto wickelt er die Finanzgeschäfte einer mysteriösen Organisation ab, deren Geschäfte durch die Geiselnahme empfindlich gestört werden. Um an eine CD, die sich im von der Polizei belagerten Haus befindet, heranzukommen, entführen Mitglieder dieser Organisation Talleys Familie und zwingen den Polizisten, für sie zu arbeiten. Durch diesen Kunstgriff kommt eine erstaunliche Doppelbödigkeit in die Handlung, denn nun spielen recht viele Akteure ein doppeltes Spiel. Auch zwischen den jugendlichen Geiselnehmern, die noch gar nicht wissen, auf welch riskantes Unterfangen sie sich eingelassen haben, kommt es zum Streit. Talley versucht seinerseits, einen Keil in die heterogene Gruppe zu treiben, weiß er mittlerweile doch, dass der diabolische Mars dazu neigt, Menschen zu töten, um ihnen beim Sterben zuzusehen. Nach gut einer Stunde sind die Positionen innerhalb der etwas unübersichtlichen Konfliktlandschaft bezogen. Was dann folgt, ist dem Genre verpflichtet und vollzieht die Auflösung peu a peu, bis schließlich nur noch marodierende Familienväter übrig bleiben, wobei der Einsatz zur Rettung der Familie das moralische Manko, für eine verbrecherische Organisation gearbeitet zu haben, locker wettmacht.
„Hostage“ ist ein cleveres Spiel mit diversen Vorbildern wie Richard Brooks „Kaltblütig“
(fd 15 344) oder John Carpenters „Anschlag“
(fd 21 142), die ja ihrerseits schon Genre-Kontrafakturen waren. Auch Hitchcock dürfte zu den Vorbildern gehören, zudem leistet sich der Film einen Running Gag, bei dem sich seine eigene Serialität in Form der beiden Verfilmungen von „Heaven can wait“ (fd 2006; fd 20 975) spiegelt. Dabei dreht „Hostage“ die Schraube dramaturgisch eine Umdrehung weiter und ist ausgesprochen stolz auf seine Cleverness, die Konfliktparteien gegeneinander auszuspielen. Aus Geiselnehmern werden Geiseln in einem anderen, übergeordneten Konflikt, Polizisten wechseln (unfreiwillig) die Seiten, Familienväter greifen zur Waffe. Allerdings hat Siris mit solchen Formalismen auch schon sein Pulver verschossen; für die Figurenzeichnung bleibt nicht mehr viel übrig. Insbesondere Talleys gebrochener Charakter spielt – obwohl zu Beginn ausführlich exponiert – im weiteren Verlauf so wenig eine Rolle wie seine Kompetenz als „Negotiator“. Vollends aus dem Gleichgewicht gerät der Film durch das haarsträubende Chargieren Ben Fosters als Mars, dessen Irrationalität lediglich dazu dient, ihn von Szene zu Szene von einer anderen Seite zu zeigen. Mal ist er ein kaltblütiger Killer, dann wieder ein verschlossener Liebender, schließlich gar der Leibhaftige selbst, der mit Feuer und Flamme straft. Beim ersten der lose gereihten Showdowns bedient sich der Film sogar bei klassischen religiösen Bilderwelten, was allerdings lächerlich wirkt, weil dies den Figuren (und der Handlung) wie so vieles andere völlig äußerlich bleibt.