Kinsey
Biopic | USA 2004 | 119 Minuten
Regie: Bill Condon
Filmdaten
- Originaltitel
- KINSEY
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- Qwerty Films/American Zoetrope/Pretty Pic./N1 European Film Prod.
- Regie
- Bill Condon
- Buch
- Bill Condon
- Kamera
- Frederick Elmes
- Musik
- Carter Burwell
- Schnitt
- Virginia Katz
- Darsteller
- Liam Neeson (Alfred Kinsey) · Laura Linney (Clara McMillen) · Chris O'Donnell (Wardell Pomeroy) · Peter Sarsgaard (Clyde Martin) · Timothy Hutton (Paul Gebhard)
- Länge
- 119 Minuten
- Kinostart
- 24.03.2005
- Fsk
- ab 12; f
- Genre
- Biopic
- Externe Links
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Heimkino
Biografie des Anthropologen Alfred Kinsey, dessen Report über das menschliche Sexualverhalten ein Universum der Verschiedenheit aufdeckte.
Ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der beiden Kinsey-Reports muss sich den Filmemachern vordringlich die Frage gestellt haben, für welche Adressatengruppe sie diese Biografie machen wollen. Für die Millionen emanzipierter Zeitgenossen, die in Kinsey heute den exakten Wissenschaftler und unbeirrten Aufklärer sehen? Oder für jenen Großteil der US-amerikanischen Gesellschaft, der trotz aller sexueller Obsessionen nach wie vor von engstirnigem Puritanismus beherrscht wird? In zahllosen US-Familien ist die Doppelmoral aus religiös verbrämter, moralischer Rhetorik und heimlichtuerischem Schlafzimmerverhalten auch heute noch genauso gegenwärtig wie zu Kinseys Zeiten. Wird der Film deshalb eine ebensolche „Medienexplosion“ auslösen wie einst die Kinsey-Reports selbst?
Vor der Premiere hat es für eine Weile so ausgesehen. Konservative Gruppierungen planten in den USA landesweite Proteste. Eine von ihnen ging sogar so weit, Kinsey mit dem NS-Arzt Josef Mengele zu vergleichen. Doch als der Film weniger Resonanz beim Kinopublikum fand, als seinem Sujet nach zu vermuten war, wurde es im Kreis der Opponenten wieder still.
Die Dinge beim Namen nennen
Bill Condon ist allerdings kein Regisseur, der zur Sensationalisierung neigt. Schon mit „Gods and Monsters“, der weitgehend fiktiven Biografie des homosexuellen „Frankenstein“-Regisseurs James Whale, hat er bewiesen, dass er ein kontroverses Thema mit großer Einfühlsamkeit und Delikatesse zu behandeln vermag. Ähnlich bedacht nähert er sich jetzt auch dem „sexuellen Revolutionär“ Alfred Kinsey. Er lässt nichts herunterspielen, vertuscht weder den explosiven Charakter von Kinseys Forschungsobjekt noch scheut er davor zurück, die Dinge beim Namen zu nennen. Aber er respektiert die Grenze zwischen ehrlicher Reportage und leichtfertiger Kommerzialisierung des Themas.
Wo immer Kinseys Erkenntnisse provokativer Natur sind (und sie waren es für die damalige Zeit fast überall), stellt Condon sie auch als solche dar. Doch er ist stets darum bemüht, dass der Film davon nicht überwältigt wird. Er besitzt sogar genügend Humor, um Grenzsituationen von Peinlichkeit und sexuelle Darstellungen von Spekulation fernzuhalten.
Wie in „Gods and Monsters“ gelingt es ihm auch diesmal, hinter der sexuellen Thematik den Menschen zu entdecken und mit liebevoller Sorgfalt in den Mittelpunkt zu rücken. Letztlich überlässt er es den Zuschauern, ob sie am Ende des Films in Kinsey den Verführer zu Freizügigkeit und „Perversion“ oder den Befreier von Ignoranz und Hypokrisis sehen wollen.
Ein Wissenschaftler, kein Revolutionär
Die Crux des Films ist eine ganz andere: Der Mann, der sich einem der tabuisiertesten Sujets der Menschheitsgeschichte verschrieben hat, der 18.000 Individuen nach den intimsten Details ihres Geschlechtslebens befragte und zum ersten Mal das Verhalten US-amerikanischer Männer und Frauen aus dem Dämmerlicht der Schlafzimmer in die grelle Öffentlichkeit holte, war seinem Wesen nach alles andere als ein Revolutionär. Es bleibt bis zum heutigen Tag sogar fraglich, ob sich Kinsey überhaupt als Weltverbesserer fühlte, oder ob er nicht Zeit seines Lebens ein erbsenzählender Wissenschaftler geblieben ist.
Wie er sich in jungen Jahren mit Wespen beschäftigt, deren Arten und Verhaltensunterschiede gesammelt und katalogisiert hat, so widmete er sich später dem Menschen und dessen Sexualleben. Wäre das Objekt seiner Forschung nicht so brisant gewesen, hätte Alfred Kinsey wohl kaum jemanden in seiner Umgebung aus der Fassung bringen können. Das ist ein großes Handicap für jeden Film, der ohne Helden nicht auskommen kann.
Das Einzige, was Bill Condon für den Menschen Kinsey tun konnte, war, ihn wenigstens sympathisch zu machen. Aber das erweist sich aber nicht als ausreichend für eine Figur, die nahezu in jeder Szene und in jeder Minute des Films auf der Leinwand zu sehen ist. Man hat es deshalb notgedrungen mit der Biografie eines Mannes zu tun, die akademischer ausgefallen ist, als es auf die Länge von zwei Stunden guttut. Zwar erfährt man von Kinseys Ehe, von seinem kollegialen und persönlichen Verhältnis zu einem jüngeren Mitarbeiter, sogar von der gebrochenen Beziehung zu seinem autoritären Vater – aber das alles bleibt von seltsam peripherem Interesse, weil der Mensch, an dem sich unsere Neugier entzünden soll, ein solcher Langweiler ist.
„Normal“ ist verschieden
Daran können auch Liam Neeson und Laura Linney wenig ändern, denn die Handlung gibt ihnen nur selten Gelegenheit, das Innere ihrer Charaktere nach außen zu kehren. Die wenigen Male allerdings, in denen das passiert, lassen sie nicht ungenutzt vorübergehen. Beide sind großartige Schauspieler, und sie machen aus diesen Augenblicken das Beste, was die magere Lebensgeschichte herzugeben vermag.
Was kann ein Drehbuchautor und Regisseur tun, wenn er sich der Biografie eines „geradezu monoton normalen menschlichen Wesens“ annimmt (wie das „Time Magazin“ Kinsey einmal apostrophierte)? Er versucht, die Wissenschaft spannender zu machen als den Menschen. Dass Condon damit Erfolg hat, stellt man als Zuschauer bereits fest, wenn sich spontane Hochachtung vor Kinseys Bienenfleiß bei der Erforschung von vier Millionen Wespen einstellt. Fast bedürfte es gar nicht mehr der revolutionären Erkenntnisse menschlichen Sexualverhaltens, die einst die Zeitgenossen so erregten: dass etwa die Hälfte aller verheirateten Frauen vorehelichen Sex hatte, oder 37 Prozent der Männer mindestens eine homosexuelle Beziehung.
Condon bringt Kinseys wissenschaftliche Arbeit auf den entscheidenden Punkt: Kinsey, der dokumentieren wollte, was „normal“ ist, entdeckte ein Universum der Verschiedenheiten. Blickt man zum Schluss noch einmal auf den Film zurück, so ist es die Wichtigkeit von Individualität, die sich als Kerngedanke der gesamten Struktur des Films entpuppt. Darin summiert sich die Moral von Kinseys Werk und die Moral des Films.