Dokumentarfilm | Deutschland 2004 | 69 Minuten

Regie: Mario Schneider

Eindringlicher Dokumentarfilm über drei junge Männer aus dem Mansfelder Bergarbeitergebiet im Osten des Harzes, die über Drogensucht, Entziehung und Rückfall sowie über die Kraft der Familie und der Gemeinschaft reflektieren. Emotional bewegende Interview-Passagen mit den Eltern und Geschwistern wechseln mit atmosphärischen Elementen sowie mit Landschaftsaufnahmen und Kinderfotos der Protagonisten. Dabei regt der Film auch zum Nachdenken darüber an, dass die Gesellschaft Verantwortung für das Schicksal der jungen Generation wahrnehmen muss. - Ab 14 möglich.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
42film
Regie
Mario Schneider
Buch
Mario Schneider
Kamera
Marcel Reategui
Musik
Sebastian Vogel · Mario Schneider
Schnitt
Marie Mäbert
Länge
69 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14 möglich.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Mario Schneider, Filmkomponist, Autor und Regisseur, kehrte für sein Langfilm-Debüt „Helbra“ in seine Heimatstadt am Rande des Harzes zurück. Er befragt drei junge Männer nach ihren Drogenproblemen: wie alles begann; auf welchen Wegen Haschisch und Heroin beschafft wurden; welche Möglichkeiten sie ergriffen, um der Sucht zu entfliehen; welche Gefühle prägend waren, gerade auch dann, wenn der Entzug scheiterte. In zwei Fällen kamen die Eltern mit vor die Kamera: ein Drogistenpaar, das einfühlsam über die Schwierigkeiten im Umgang mit der Tatsache reflektiert, dass der eigene Sohn süchtig ist; und ein anderes Paar – Vorruheständler der Vater, Gebäudereinigerin die Mutter –, das sich ebenfalls um Sensibilität bemüht, intellektuell und emotional aber völlig mit der Situation überfordert zu sein scheint. Der dritte junge Mann, Markus, blieb vor der Kamera allein; im Pressematerial ist nachzulesen, dass er zwar nach wie vor bei seinen Eltern wohnt, aber seit einem halben Jahr kein Wort mehr mit dem Vater gewechselt hat. „Helbra“ ist ein hoch anständiger Film. Keiner von denen, die Mario Schneider zu Wort kommen lässt, wird beschädigt oder gar verurteilt: Aus den Gesichtern und aus den Gesten, aber auch aus dem Schweigen lässt sich stattdessen Hilflosigkeit und Traurigkeit ablesen. Niemand hat ein Rezept, wie der Droge auf Dauer zu entkommen sein könnte; jeder weiß, dass es nur eines kleinen Anstoßes bedarf, um erneut in den Teufelskreis der Sucht zu geraten. Markus, der kurz vor Beginn der Dreharbeiten wieder einmal einen solchen Absturz erlebte, spricht von einer „Zwischenwelt“, in der er sich befinden würde. Wie belastend diese Zwischenwelt für alle ist, die direkt und indirekt mit ihr konfrontiert sind, zeigt der Film. Mario Schneider montiert ihn vor allem aus Gesprächen – mit den Jungen, mit ihren Eltern oder Geschwistern, einzeln oder gemeinsam. Aus dem Material spricht ein enormes Vertrauen; nur so konnte es gelingen, dass sich die Interviewpartner vor der Kamera öffneten. Zu den ergreifendsten Momenten des Films, den eine tiefe menschliche Wärme durchzieht, gehören die Erinnerungen von Michaels Mutter und Vater an den Versuch, einmal übers Wochenende einen „kalten Entzug“ zu wagen: Der Sohn wurde in sein Zimmer eingeschlossen, der Vater blieb die ganze Zeit über bei ihm, spendete ihm während der Schweiß- und Kälteausbrüche, der körperlichen Strapazen und Nervenschmerzen Trost – und wurde dann doch enttäuscht. Michael fragt sich, warum er nicht einfach die Liebe annehmen könne, die ihm die Eltern geben. Und weiß doch, dass die Familie „wie eine Felsgruppe“ zu ihm hält: ein Wissen, das die anderen beiden jungen Männer entweder nicht haben oder an sich abprallen ließen. In solchen Passagen weist der Film, ohne in platte Didaktik abzugleiten, auf den Wert eines familiären Rückhalts hin – und auf die Gefahr, die poröse oder zerbrochene Beziehungen mit sich bringen. Zugleich macht er das Dilemma deutlich, in dem sich die Eltern befinden, deren Liebe ja nicht oder nur partiell erwidert wird. Wie lange hält man es aus, getäuscht und belogen zu werden? Und ist die Lüge vorsätzlich? „Helbra“ regt zum Nachdenken darüber an, wie schwer es fällt, Drogensucht nicht als Laune oder gar irgendeine Art von Rache am Elternhaus zu sehen, sondern als Krankheit zu begreifen. Wobei der Film allerdings nicht nur aus Interviews besteht. Als atmosphärischen Kommentar verwendet der Regisseur Aufnahmen der Landschaft, des Regens auf Fensterscheiben, einer scheinbar ins Nirgendwo verlaufenden Straße. Er blendet Kinderfotos von Michael und Mathias ein: Reminiszenzen an ein verlorenes Glück, ein entschwundenes Paradies, das womöglich doch nicht so paradiesisch gewesen sein mag, entdeckt man etwa Mathias‘ zunehmend sichtbare Verweigerung. Den Rahmen des Films bilden Verweise auf gesellschaftliche Verwerfungen in Helbra, dem einstigen Bergarbeiterort im Mansfelder Land. Im Prolog nehmen die Bergleute Abschied von ihrer über hundertjährigen Halle und dem Schornstein, der weit über die Felder und Halden zu sehen war und nun gesprengt wird; und im Epilog singen alte Kumpel, nun als Rentner in ihren Gärten und jeder für sich, noch einmal das Bergleutelied „Glück auf, der Steiger kommt“. In Helbra freilich gibt es keinen Steiger mehr. Die Bewerbungen, die Mathias und seine Mutter verschicken, werden meist abschlägig beschieden. Michael verdingt sich als Leiharbeiter bis hin nach Amsterdam. Und Markus bringt sein Dilemma auf den Punkt: „Jeder braucht irgendwo ein Ziel, eine Zukunft. Ich habe da nichts. Du sitzt den ganzen Tag da und weißt nicht, was Du machen sollst, und kriegst Angst, und dann nimmst Du doch was, um wieder ruhiger zu werden.“ Mit seinen nachdenklichen Worten „Die Hütte hätten sie stehen lassen sollen, dann wären wir jetzt alle Bergmänner“ endet der Film, der Verantwortung natürlich bei jedem Einzelnen sucht, dabei aber eben auch die Gesellschaft nicht ausklammert.
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