Der Vichy-Kommandant Paul Touvier, der 1994 als erster Franzose wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde, stand einem Film Modell, der das Schicksal des Judenmörders mit erfundenen Begebenheiten ausschmückt und über weite Strecken zum Gegenstand eines politischen Thrillers abwertet. Faszinierend ist jedoch die Darstellung der Hauptfigur durch Michael Caine, dem ein beklemmendes Porträt eines sich selbst bemitleidenden Scheusals gelingt.
- Ab 16.
The Statement
Politthriller | Kanada/Frankreich/USA 2003 | 120 Minuten
Regie: Norman Jewison
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Filmdaten
- Originaltitel
- THE STATEMENT
- Produktionsland
- Kanada/Frankreich/USA
- Produktionsjahr
- 2003
- Produktionsfirma
- Serendipity Point/Company Pictures/Odessa
- Regie
- Norman Jewison
- Buch
- Ronald Harwood
- Kamera
- Kevin Jewison
- Musik
- Normand Corbeil
- Schnitt
- Andrew S. Eisen · Stephen E. Rivkin
- Darsteller
- Michael Caine (Pierre Brossard) · Tilda Swinton (Annemarie Livi) · Jeremy Northam (Colonel Roux) · Alan Bates (Armand Bertier) · Charlotte Rampling (Nicole)
- Länge
- 120 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Politthriller
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Das Thema Rassismus spielt eine nicht zu übersehende Rolle im Schaffen des heute 77-jährigen Regisseurs Norman Jewison („In der Hitze der Nacht“, fd 15 338; „Sergeant Waters – Eine Soldatengeschichte“, fd 25 055). Doch Jewison hatte nicht immer Glück mit der Rezeption seiner Filme. So entfachte „Hurricane“ (fd 34 137) in den USA heftige Diskussionen, weil die Story zwar einen bekannten, kontrovers beurteilten tatsächlichen Fall aufgriff, das Drehbuch aber mit den Fakten ein wenig leichtfertig umging. Es nimmt kaum Wunder, dass es „The Statement“ ähnlich ergeht. Ronald Harwood („Der Pianist“, fd 35 643) schrieb das Drehbuch nach einem 1995 erschienenen Roman von Brian Moore, der seinerseits auf Ereignissen während der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg basiert. Im Mittelpunkt steht ein französischer Kollaborateur, dessen Name zwar geändert wurde, dessen Geschichte aber nach einem eindeutig definierbaren Vorbild modelliert wurde. Der Prozess gegen Paul Touvier, den Vichy-Kommandanten, der 1994 als erster Franzose wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde, ist den meisten Franzosen und sicher auch vielen anderen Zuschauern heute noch gegenwärtig. Er ging damals durch die Weltpresse und ist eigentlich zu wichtig, um im Kino hinter einem anderen Namen und historisch nicht immer korrekten Ereignissen versteckt zu werden. Touvier war ein überzeugter Gefolgsmann von Klaus Barbie, dem Gestapo-Chef von Lyon, und mitverantwortlich für die Deportation von über 75.000 französischen Juden. Im Juni 1944 gab er persönlich den Befehl zur Erschießung von sieben Juden in der Ortschaft Rillieux-la-Pape. Nach dem Krieg wurde Touvier in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er tauchte unter und hielt sich mit zweifelhaften kleinen Geschäften am Leben, bis er 1971 vom französischen Präsidenten Georges Pompidou begnadigt wurde. Ein Aufstand in der französischen Öffentlichkeit zwang ihn abermals in den Untergrund. Wie auch schon vorher gewährten ihm Klöster und konservative katholische Kleriker finanzielle Hilfe und Unterschlupf. 1989 wurde Touvier in Nizza gefasst und zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Er starb 1996 in einem Gefängniskrankenhaus.
Die Figur im Film heißt Pierre Brossard und ist ein 70 Jahre alter Mann, der sich beständig auf der Flucht vor seiner Vergangenheit befindet. Nach einem Mordanschlag sieht Brossard nur noch einen Ausweg: sich über seine Vertrauten in der Regierung und im Klerus einen falschen Pass zu besorgen, mit dem er ins Ausland fliehen könnte. Eine anonyme Organisation ist ihm auf den Fersen und, bedrohlicher noch, eine mit besonderen Befugnissen ausgestattete Richterin, die sich mit fieberhaftem Eifer in die Aufgabe verbissen hat, Brossard dingfest zu machen. Obwohl zur Motivation von Person und Geschehen mehrmals in Rückblenden auf die Juden-Erschießung während des Krieges verwiesen wird, spielt sich die Handlung vornehmlich in Klöstern ab, wo sich Brossard immer wieder verbergen kann. Den Effekten des Kinos getreu, wird er nicht vor Gericht gestellt, sondern kurz vor dem Gelingen seines Fluchtversuchs erschossen.
Jewison mag stets ein politisch engagierter Mensch gewesen sein, ein politisch argumentierender Regisseur ist er nicht. Die Dramaturgie von „The Statement“ folgt den pedantischen Vorbildern des konventionellen Agentenfilms alter Schule. Randfiguren und Situationen werden gelegentlich überstrapaziert und stellen die Geduld des Publikums auf die Probe. Was einen dennoch festhält, sind zwei Dinge: die scheinbare Widersprüchlichkeit in Brossards Charakter und die Undurchschaubarkeit der Motivation seiner zahlreichen Beschützer. Die eine Komponente erweist sich auf Dauer als Stärke des Films, die andere als Schwäche. Michael Caines Karriere ist nicht gerade arm an sonderbaren Figuren und exzeptionellen Charakterdarstellungen. Der zwiespältige Pierre Brossard gehört zu seinen besten Leistungen: ein Mensch, der seine Existenz auf der Rechtfertigung einer fast ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Untat aufbaut, der den Überlebenstrieb einer Ratte im Käfig besitzt, immer noch ein kaltblütiger Killer auf der einen und ein um Absolution bettelnder Verzweifelter auf der anderen Seite. Sogar in Caines nuancierter Darstellung ist dieser Pierre Brossard nur einen winzigen Schritt von der Lächerlichkeit entfernt. Umso unfassbarer, dass die Gratwanderung eines sich selbst bemitleidenden Scheusals gelingt.
Weniger Glück hat der Film mit der Beschreibung des Umfelds, ohne das Brossard nie hätte überleben können. Das Drehbuch bietet eine ganze Reihe von Motiven, warum so viele Klöster, Kirchenobere und Staatsfunktionäre mit Brossard sympathisierten: das uralte Privileg der Klöster als Zufluchtsort reuiger Verfolgter; die Angst vor dem Kommunismus, die größer war als die Angst vor den Nazis; ja sogar die Vermutung eines unterschwelligen Antisemitismus. Aber der Nebel wird nie gelichtet, eine ernsthafte Auseinandersetzung findet nicht statt. Nach den ungeschriebenen Gesetzen des Politthrillers mag eine solche Mystifizierung des Hintergrunds gerechtfertigt sein, im Zusammenhang eines Films, der sich mit historischen Geschehnissen beschäftigt – wie frei variiert sie auch sein mögen – ist sie fatal. Der Zuschauer tappt im Dunklen, wo er Aufklärung haben möchte, und sieht sich hinters Licht geführt, wenn er herausfindet, dass ein heißes Eisen der französischen und deutschen Vergangenheit letztlich zu nichts anderem benutzt wird als zu einem mit Kontroversen und Kontradiktionen aufgeladenen Abenteuer.
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