The Five Obstructions

- | Dänemark/Belgien/Schweiz/Frankreich 2001-03 | 90 Minuten

Regie: Jørgen Leth

Während der Dreharbeiten zu "Dancer in the Dark" und "Dogville" initiierte Lars von Trier ein Filmprojekt mit dem Urheber des Kurzfilms "The Perfect Human" (1967), der ihn am Beginn seiner Laufbahn nachhaltig geprägt hatte. Der Regisseur Jørgen Leth lebt inzwischen auf Haiti, leidet an Depressionen und wird nach Kopenhagen eingeladen, um ein neues Projekt auszuarbeiten. Von Trier gebärdet sich ironisch als kleiner Diktator, der seinem Gegenüber rhetorische Fallen stellt, um komplizierte und aberwitzige Konstellationen für die Realisierung neuer Adaptionen jenes Kurzfilms zu schaffen. Drei Jahre später liegen vier neue Filme vor, die ihrerseits formale und inhaltliche Maßstäbe setzen. Das Projekt erweist sich als eine Liebeserklärung an einen Kollegen, dessen Arbeit sowie ans Kino schlechthin, mit der von Trier Einblick in seine eigene Methodik des Filmemachens gewährt. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
THE FIVE OBSTRUCTIONS | DE FEM BENSPAEND
Produktionsland
Dänemark/Belgien/Schweiz/Frankreich
Produktionsjahr
2001-03
Produktionsfirma
Zentropa Real/Wajnbrosse Prod./Almaz Film/Panic Prod.
Regie
Jørgen Leth · Lars von Trier
Buch
Jørgen Leth · Lars von Trier
Kamera
Dan Holmberg
Musik
Henning Christiansen · Fridolin Nordsø · Kristian Leth
Schnitt
Camilla Skousen · Morten Højbjerg
Darsteller
Jørgen Leth · Lars von Trier · Jacqueline Arenal · Daniel Hernández Rodriguez · Patrick Bauchau
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Diskussion
Als deutscher Zuschauer muss man schon zur kleinen Schar aufmerksamer Festivalbesucher gehören, um jemals eine Arbeit von Jørgen Leth gesehen zu haben. Für einen berühmten Filmemacher aber war die Begegnung mit einem Kurzfilm des dänischen Regisseurs absolut prägend: Lars von Trier hat den zwölfminütigen „The Perfect Human“ (1967) Dutzende Male gesehen, er wurde durch ihn nach eigener Aussage geprägt wie durch keinen anderen Film. Zeitgleich zu den Dreharbeiten zu „Dancer in the Dark“ (fd 34 476) und „Dogville“ (fd 36 175) besann sich von Trier auf seine Wurzeln und initiierte ein Filmprojekt mit dem Urheber von „The Perfect Human“; jedoch nicht so, dass er Leth Geld für einen neuen Film zur Verfügung stellte, sondern indem er die einst empfangene Inspiration quasi umkehrte und zurückgab.

Leth (geb. 1937) hat sich auf die von permanenten Krisen heimgesuchte Karibikinsel Haiti zurückgezogen, wo er Gedichte schreibt und regelmäßig in monatelange Depressionen verfällt. Sein beinahe 20 Jahre jüngerer Kollege von Trier (geb. 1956) zwingt ihn nun dazu, sich erneut dem Filmemachen zu stellen. Basierend auf der Lehre, die der Jüngere einst aus „The Perfect Human“ zog – nämlich die der Selbstdisziplinierung durch das Auferlegen von formalen Zwängen –, entwickeln beide ein System, nach dem Leth seinen eigenen Klassiker adaptieren soll, und zwar gleich fünf Mal nacheinander. Von Trier gebärdet sich in seinem Zentropa-Studio ironisch als kleiner Diktator, der seinem Gegenüber rhetorische Fallen stellt, um möglichst komplizierte, ja aberwitzige Konstellationen für die Realisierung der Adaptionen zu schaffen. Grimmig behauptet er, damit das Scheitern Leths provozieren zu wollen. Aber die Therapie greift: Leths Ehrgeiz ist geweckt. Nach drei Jahren liegen wundervolle neue Filme vor.

1) Das erste der fünf Remakes wird auf Kuba gedreht, zunächst nur, weil Leth noch nie auf dieser Insel war. Er muss mit einheimischen Darstellern arbeiten und darf für jede Einstellung nur zwölf Bilder benutzen – ein Hemmnis, an das sich der Regisseur dann aber nicht ganz hält. Die im Original verbal gestellten Fragen sollen nun, mehr als 30 Jahre später, beantwortet werden. Ergebnis ist ein stakkatohaft geschnittener, nicht minder enigmatischer Film, der vor allem durch die Eleganz seiner Montage besticht. Der exotische Schauplatz fügt sich nicht nur harmonisch ins Konzept ein, er fügt dem Unterfangen sogar eine neue Dimension hinzu.

2) Von Trier hat den Eindruck, es seinem Delinquenten zu leicht gemacht zu haben. Die Obstruktionen seien eher förderlich als hemmend gewesen. Dem Entschluss, die nächste Variante in Bombay aufzunehmen, geht eine ethische Diskussion voraus: Wäre es statthaft, Dreharbeiten zu einem Kurzfilm in einem Flüchtlingslager, vor dem Hintergrund verhungernder Kinder vorzunehmen? Leth schließt dies kategorisch aus. Als trostlosester Ort auf Erden wird dann das Rotlichtviertel der indischen Millionenstadt ausgemacht. Inmitten des makabren Markttreibens wird ein Set aufgebaut, in dem Leth jene Szene seines alten Films nachspielen muss, in der ein Mahl von ausgesuchter Raffinesse stattfindet. Er trägt Smoking, benutzt schweres Besteck und zerlegt damit kunstvoll eine Dorade, trinkt dazu Chablis. Dann rasiert er sich und tanzt vor der Kamera. Dieses Geschehen ist vom umgebenden Menschengewimmel lediglich durch eine halbtransparente Folie getrennt, sodass Passanten, Prostituierte und Kunden zu Statisten werden.

3) Das Ergebnis verstört von Trier spürbar. Er zettelt eine Diskussion über vorgebliche Regelverstöße an, die mehr oder weniger im Sande verläuft. Um Leth zu verwirren, verzichtet er bei der nächsten Etappe auf Verbote und Auflagen und unterstellt, dass für ihn die größte Strafe darin bestehe, alle formalen und inhaltlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Leth zieht sich mehr als achtbar aus der Affäre. Mit Patrick Bauchau als Hauptdarsteller – dem Dandy aus Eric Rohmers „Die Sammlerin“ (fd 16 667) – greift er eine im Original sehr dezent angelegte Plot-Linie auf, spielt in tableauartigen Split-Screen-Szenen mit Versatzstücken des Unterhaltungskinos. Dabei driftet er nie in die billige Kurzkrimi-Ästhetik eines Musikvideos ab; alles bleibt offen, deutet weitere Handlungsstränge an.

4) Zwanglos plaudern die beiden Regisseure in der Zentropa-Kantine, führen ein scheinbar entspanntes Gespräch über ihre cineastischen Vorlieben und Abneigungen. Als sie sich in ihrer sehr geringen Wertschätzung für Zeichentrickfilme treffen, bemerkt Leth zu spät, dass er in eine weitere Falle von Triers getappt ist: Selbstverständlich muss er nun einen Animationsfilm abliefern. Umgehend tut er sich mit Bob Sabiston zusammen, dem Kopf der innovativen texanischen Firma „Flat Black Films“, die es mit Richard Linklaters „Waking Life“ (fd 35 486) zu einiger Berühmtheit brachte. Gemeinsam entwickeln sie einen überaus reizvollen Animationsfilm, der sowohl Momente aus „The Perfect Human“ als auch aus den bisherigen drei Neuverfilmungen zitiert.

5) Mit dem letzten Teil der „Obstruktionen“ holt Lars von Trier zum Gegenschlag aus: Er schneidet aus den Aufnahmen der Gespräche, die zwischen ihm und Leth während der letzten zwei Jahre stattfanden, einen eigenen Beitrag zusammen, verfügt aber, dass dieser öffentlich als ein „Jørgen-Leth-Film“ deklariert wird. Darüber hinaus zwingt er seinen Kollegen, einen Brief zu verlesen, der an von Trier gerichtet ist. (Von Trier schreibt also einen Brief an sich selbst, behauptet aber, dass es ein Brief von Leth sei.) In diesem Text fasst er aus mehrfach gespiegelter Perspektive noch einmal seine Intentionen, Erwartungen und Schlussfolgerungen aus dem „Obstructions“-Projekt zusammen.

„The Five Obstructions“ offenbart sich primär als filmische Liebeserklärung: an einen Menschen und dessen Arbeit sowie an das Kino schlechthin. Lars von Trier reißt nicht nur einen persönlich geschätzten Kollegen aus seiner Lethargie, er setzt auch eine filmische Pioniertat in ihr Recht als Klassiker; und er fungiert als Geburtshelfer von vier neuen Kurzfilmen, die ihrerseits formale und inhaltliche Maßstäbe setzen. Darüber hinaus und fast nebenbei gewährt von Trier seltenen Einblick in seine eigene Methodik des Filmemachens; sehr nachvollziehbar erscheint der Zusammenhang zwischen seiner Prägung durch Leths „The Perfect Human“ und dem „Dogma 95“-Manifest. Die darin formulierten Regeln stellen ja nichts anderes als „Obstruktionen“ dar – künstlich auferlegte Beschränkungen, die unter günstigen Umständen kreatives Potenzial freisetzen können. Deutlich wird dabei auch, was die Apologeten vom Genie unterscheidet. Während weltweit immer noch an der buchstabengetreuen Umsetzung von Dogma-Filmen gebastelt und um die durchlaufende Nummerierung gestritten wird, hat sich deren Urheber schnellstmöglich über die selbst aufgestellten Paragraphen hinweggesetzt, waren ihm diese Obstruktionen doch stets nur ein Vehikel der Kreativität, Spielmaterial auferlegter Disziplin – niemals aber reiner Selbstzweck. Die berühmten Dogmen hat von Trier nicht zuletzt deshalb aufgestellt, um gegen sie aufbegehren zu können. Seine Nachahmer haben das damit verbundene, dialektische System nicht verstanden, blieben mit ihrer Rezeption an der Oberfläche und mussten deshalb Ursache und Wirkung verwechseln.

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