Schuld waren wahrscheinlich Busby Berkeleys Revuen, denn sie erzählten der Tschechin Selma vom gelobten Land, vom „Home of the Brave, Land of the Free“. In seinem neuesten Film erzählt Lars von Trier eine einfache, absolut skandalöse Geschichte: Immer schon hat die naive, grundgütige und leicht somnambule Selma den Glücksverheißungen der Kino-Musicals vertraut. Jetzt, Anfang der 60er-Jahre, lebt sie als allein erziehende Mutter in einem Wohn-Trailer in Washington State und arbeitet in einer Fabrik, die stählerne Waschbecken produziert. Aufgrund einer Erbkrankheit verliert Selma rapide ihr Sehvermögen und dieses Schicksal möchte sie ihrem Sohn Gene (sic!) ersparen, weshalb sie jeden Cent für die rettende Operation beiseite legt. Der Krankheitsverlauf wird durch Stress beschleunigt, weshalb niemand von Selmas Krankheit erfahren darf, insbesondere natürlich Gene nicht. Leider sind die USA auch eine kapitalistische Realität, weshalb Bill und Linda, das befreundete Paar, auf deren Grundstück Selma und Gene leben, vor dem finanziellen Ruin stehen. Linda hat beständig über ihre Verhältnisse gelebt, weil Bill sie aus Liebe über seine ökonomischen Möglichkeiten getäuscht hat. Bill und Selma vertrauen einander ihre Geheimnisse an, wobei Bill insgeheim hofft, dass Selma ihm mit ihren Ersparnissen aus der Patsche helfen wird. Doch Selma denkt mit dem Herzen und deshalb nur an Genes Operation. In seiner Verzweiflung stiehlt Bill schließlich das Geld und wird von Selma zur Rede gestellt. Es kommt zu einer tätlichen Auseinandersetzung, bei der Bill qualvoll ums Leben kommt. Obwohl es sich dabei um eine Art von Selbstmord aus Selbstverachtung gehandelt hat, wird Selma verhaftet und des Mordes angeklagt. Weil sie sich weiterhin an das mit Bill vereinbarte Schweigegebot hält und auch ihr Geheimnis wahrt, wird sie zum Tode verurteilt. Selmas Freunde Kathy und Jeff recherchieren schließlich die entlastenden Tatumstände und wollen das Verfahren mit einem fähigeren Anwalt neu aufrollen. Doch Selma weigert sich, Genes Geld zu ihrer Rettung einzusetzen und wird hingerichtet.Die Versuchsanordnung dieser neuen Passionsgeschichte von Lars von Trier ist so kompliziert wie lückenlos, allerdings nicht nach Maßgabe eines wie auch immer gebrochenen psychologischen Realismus, sondern vielmehr in Form eines Lehrstücks. Einmal in Schwung gekommen, schraubt es sich mit der Präzision eines Uhrwerks spiralförmig herab, bevor die letzte Kamerabewegung diese Tendenz ins Gegenteil verkehrt, ohne jedoch einen Sinn zu stiften. Wo am Schluss von „Breaking the Waves“
(fd 32 145) die Glocken am Himmel noch für eine pathetische oder ironische Pointe sorgten, steht jetzt ein letztlich kontingenter, weil interpretationsbedürftiger Schwenk nach oben.Ein Beispiel für die lückenlos konstruierte Dramaturgie: Glaubt man zunächst, dass Selma aus der CSSR stammen soll, umso die immer leicht entrückte und exotische Präsenz Björks glaubhaft zu machen, so verdankt sie später genau dieser Tatsache die antikommunistische Ranküne während der Gerichtsverhandlung im Post-McCarthy-Amerika, die ihr keine Chance lassen wird. Durch die Vermutung einer kommunistischen Gesinnung wird aus dem Rätsel Selma eine eindeutige Geschichte, die sich wie ein Puzzle schlüssig zusammensetzen lässt. Dass der Zuschauer weiß, wie empörend falsch und ungerecht diese Geschichte ist, ist eine Ingredienz des Melodrams ebenso wie die Tatsache, dass Selma nicht willens ist, in ihrem eigenen Interesse zu handeln. Auf dieser Ebene feiert „Dancer in the Dark“ ein Konzept von Mutterliebe, das die Auslöschung der eigenen Existenz beinhaltet.Aber „Dancer in the Dark“ ist auch ein Musical. Der Film eröffnet mit „My Favourite Things“ von Rogers/Hammerstein, und Selma und Kathy engagieren sich in ihrer (kargen) Freizeit in einer Laieninszenierung von „The Sound of Music“, dem Genre-Nachzügler, dessen Verfilmung durch Robert Wise (1965) auf reizvolle Weise zwischen Musical-Eskapismus und politischem Hintergrund changierte. Solch ein experimenteller Genre-Mix, den von Trier allerdings bis zur Transzendierung zuspitzt, ist auch „Dancer in the Dark“, wobei die konsequent zu Ende buchstabierte Kombination von Musical, Arbeitswelt, Krankheit, Mord und Todesstrafe provozierend geschmacklos sein mag. Durch die Besetzung mit Catherine Deneuve - sie spielte in „Die Regenschirme von Cherbourg“
(fd 30 511) von Jacques Demy - und Joel Grey - er spielte in „Cabaret“
(fd 17 986) von Bob Fosse - produziert von Trier weitere Intertexte in die Geschichte des Film-Musicals, das als Genre auch auf der Handlungsebene selbstreflexiv diskutiert wird. Während dem Polizisten Bill die surreale Komponente des Musicals suspekt ist, präsentiert Selma dessen utopische Qualitäten, die bedrohlich inszenierte Arbeitsprozesse (die schmächtige, fast blinde Selma inmitten der mörderischen, stahlverarbeitenden Maschinen) spielerisch in eine von Techno-Klängen unterfütterte Choreografie aufzulösen vermögen und Tote wiederauferstehen lassen können. Während Robby Müller die „realen“ Szenen auf Digital-Video gedreht hat - was durch die matten, ausgeblichenen Farben und die geringe Bildtiefe die durch den Handlungsort ohnehin gegebene Anspielung auf David Lynchs Fernsehserie „Twin Peaks“ noch verstärkt - , sind die Tanzeinlagen mit prächtigstem Resultat auf Zelluloid gedreht. Dies pointiert einerseits die Ambivalenz des Genres Musical, formuliert andererseits zugleich Kritik und Affirmation des Genres, ohne eine entschiedene Position beziehen zu müssen. So bezeichnen die Musical-Szenen die Figurenperspektive Selmas, während deren subjektiv utopische Funktion für den Zuschauer als potenziertes Melodram ausgestellt und „entlarvt“ wird, ohne dass diese sadistische Konstruktion eine kathartische Lösung erführe: Weil Selmas Perspektive („I’ve seen it all“) obsiegt kann sich ihr skandalöses „Schicksal“ vollziehen, obschon sie von Menschen umgeben ist, die mit wenigen Ausnahmen nur ihr Bestes wollen.Lässt man sich auf diese mehrfach verzahnte Konstruktion ein, durchlebt man ein berührendes, beängstigend (zugleich dankenswert) unironisches und perfekt inszeniertes Exerzitium, das von Trier der tief religiösen Kunst seines erklärten Vorbildes Carl Theodor Dreyer nahe bringen zu scheint. Dass liegt nicht zuletzt an der unglaublichen Leistung von Björk, die aus der Nicht-Schauspielerin herauszulocken wohl den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt hat. Es bleibt jedoch eine Ratlosigkeit, was die grausam in Szene gesetzte Präsentation der Frau als Opfer angeht, d.h. die Frage nach der Ideologie hinter diesem bösartigen Anschlag auf den Zuschauer, der dieser wechselseitig aufeinander bezogenen Dekonstruktion von Musical und Melodram innewohnt. Das Zentrum von „Dancer in the Dark“ (der Ort, von dem aus gesprochen wird) ist auf verstörende Weise unbestimmt, es bleibt dem Zuschauer überlassen, diese Leere als de facto reaktionären Rigorismus oder als letztlich scholastistisches Glasperlenspiel zu deuten.