Ich hiess Sabina Spielrein
Dokumentarfilm | Schweden/Dänemark/Finnland/Schweiz 2002 | 93 Minuten
Regie: Elisabeth Márton
Filmdaten
- Produktionsland
- Schweden/Dänemark/Finnland/Schweiz
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- Idè Film Felixson AB/Maximage/Haslund Films AS/Millenium Film OY/Les Films du Centaure
- Regie
- Elisabeth Márton
- Buch
- Elisabeth Márton · Signe Maehler · Yolande Knobel · Kristina Hjertén
- Kamera
- Robert Nordström · Sergej Jurisdizki · Imre Becsi · Jan Eriksson-Tillberg · Mischa Gavrjusjov
- Musik
- Wladimir Dikanski
- Schnitt
- Björn Engström · Yolande Knobel
- Darsteller
- Eva Österberg (Sabina Spielrein) · Lasse Almebäck (Carl Gustav Jung) · Marcedez Csampai · Palle Granditsky · Natalia Usmanowa
- Länge
- 93 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Auch der Dokumentarfilm der in Schweden lebenden Filmemacherin Elizabeth Márton handelt von dieser Mesalliance. Im Unterschied zu mancher freischwebenden Deutung lässt sie Spielrein allerdings selbst zu Wort kommen, indem sie ihre Briefe und Notizen durch Voice over zum Sprechen bringt. Die chronologisch strukturierte Filmbiografie ähnelt dadurch einem authentischen Briefroman, der auf der Bildebene durch eine stupende Fülle an historischen Fotos, Wochenschau-Aufnahmen und anderen Dokumenten unterlegt ist. Die kunstsinnige, hochartifizielle Montage weiß mit dem disparaten Material viel anzufangen, das mitunter zu höchst bewegtem Leben erwacht, wozu auch die geschickt eingeschnitte Spielszenen mit den Schauspielern Eva Österberg und Lasse Almebäck zählen. Durch Überblendungen, extreme Perspektiven, dem Spiel mit Licht und Schatten und flüchtigen, farbentsättigten Momentaufnahmen fügen sich diese nachinszenierten Begebenheiten in den traumnahen Duktus einer zeitversetzten Annäherung, die eine starke, kämpferische Persönlichkeit nahe bringt. Trotz der nicht kaschierten Fiktionalisierung durch Eva Österbergs geheimnisvoll-schmales Gesicht, das sich mit aufmerksam- fragendem und zugleich doch stillem Blick dem Gedächtnis einprägt, wahrt die intensive filmische Spurensuche eine wohltuende dokumentarische Distanz: Obwohl intimste Gedanken preisgegeben werden, bleiben die Protagonisten auf eine bezeichnende Art fremd; nie hat man das Gefühl, sie als „Figuren“ zu durchschauen oder ihre Empfindungen zu „verstehen“; ganz im Gegenteil begegnet man Jung und Spielrein ähnlich wie realen Personen mit Achtung und Respekt, auf Augenhöhe. Dazu trägt freilich weniger die angeblich der Psychoanalyse abgeschaute Form des Films bei, die linear und assoziativ zugleich sein soll, als vielmehr die Klarheit der Zitate und ihre dem jeweiligen Dialekt angenäherte Intonation; die raffinierte, vielfach kodierte Bildebene erschließt sich in ihre Komplexität erst dem zweiten, mit dem Gegenstand bereits vertrauten Blick.
Trotz seines scharfsinnig-essayistischen Diskurscharakters ist das streng komponierte Porträt aber so gestaltet, dass es auch eine emotionale Begegnung mit der ungewöhnlichen Frau ermöglicht und Sabina Spielrein damit eine Art späte Gerechtigkeit widerfahren lässt, in deren Schicksal sich die Größe, aber auch die Verdammnis des 20. Jahrhunderts schmerzhaft widerspiegeln. Was 1904 als „psychotische Hysterie“ diagnostiziert und mit dem noch ungelenken Begriffsapparat der Psychoanalyse seziert wurde, würde man heute als pubertäre Krise empfinden, durch die eine so vielseitig talentierte Heranwachsende wohl hindurch muss. Ihr Leben in Widersprüchen, die ständigen Kompromisse zwischen Karriere und Kindern, Bindung und Empfindung, Gefühl und Logik ist zur alltäglichen Gestalt modernen Lebens geworden; der Aufbruch aus Standes- und religiösen Grenzen nicht weniger. Um so bedrückender empfindet man deshalb wohl den Sturz in die Barbarei des linken wie rechten Totalitarismus, der dem eben flügge gewordenen Jahrhundert die Flügel stutzte und eine bislang ungekannte Individualisierung im Keim erstickte. Die Titelzeile „Ich hiess Sabina Spielrein“ ist deshalb mehr als ein Zitat, fast ein Vermächtnis, zumal es vollständig um die Zeile „Ich war auch einmal ein Mensch“ ergänzt werden müsste. Elizabeth Mártons filmische Verneigung vor einer Pionierin der Psychoanalyse öffnet dafür eine Tür, hinter der man einer faszinierenden Persönlichkeit begegnen kann.