Dokumentarfilm über den Wahlkampf eines Bundestagskandidaten der CDU, der in der brandenburgischen Uckermark auf verlorenem Posten steht und zunehmend verdrossen Werbung in eigener Sache macht. Der hellsichtige und zugleich erhellende Film ist ein Glücksfall für den politischen Dokumentarismus, der über den konkreten Einzelfall hinaus auch die fundamentale Krise der bundesdeutschen Demokratie reflektiert. (Fortführung:. "Herr Wichmann aus der dritten Reihe", 2012)
- Sehenswert ab 14.
Herr Wichmann von der CDU
- | Deutschland 2002 | 71 Minuten
Regie: Andreas Dresen
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- Megaherz/BR/WDR
- Regie
- Andreas Dresen
- Buch
- Andreas Dresen
- Kamera
- Andreas Dresen
- Schnitt
- Jörg Hauschild
- Länge
- 71 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
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Heimkino
Diskussion
Etwas Glück gehört wahrscheinlich auch dazu, wenn man als Dokumentarist arbeitet, manchmal reicht vielleicht auch schon ein guter Riecher. Im Falle von Andreas Dresens Dokumentation, produziert im Rahmen der renommierten Reihe „Denk ich an Deutschland“, war dieser Glücksfall die Wahl des Hauptdarstellers: Hendryk Wichmann, 25 Jahre alt, CDU-Bundestagskandidat für die Region Uckermark/Oberbarmin, irgendwo im Nordosten Brandenburgs, ist mehr als die halbe Miete dieses „offenen“ Porträts. Herr Wichmann hat ein großes Problem: Markus Meckel, sein übermächtiger SPD-Antipode, erhält im Wahlkreis gewöhnlich mehr als 50 Prozent der Stimmen. Als Dresen im Sommer 2002 mit den Dreharbeiten begann, hatte ein Begriff wie „SPD-Hochburg“ offenbar noch Relevanz. Wichmann will jedoch „frischen Wind“ in die strukturschwache Region bringen und rechnet optimistisch mit „30 plus x Prozent“ – am Ende werden es wenig mehr als 20 Prozent sein. Dresen hat ihn mit einem dreiköpfigen Team bei seiner politischen Kärrnerarbeit in der heißen Wahlkampfphase beobachtet. In langen, angenehm ruhigen Einstellungen, die viel Raum für Entdeckungen lassen, erlebt man den mit einem Ansteckmikrofon ausgestatteten Wichmann auf permanenter Wählersuche, beim Dreh eines Wahlspots fürs Regionalfernsehen, bei der Vorbereitung eines Auftritts der Bundesprominenz und bei einem Besuch in einem Altenheim. Viele dieser Szenen sind auf eine derart glückliche Art und Weise verdichtet, dass man sie schwerlich treffender inszenieren könnte.
Wichmann, der durchweg als Herr der Töne und Bilder agiert, gibt den jung-dynamischen Konservativen, der gegen die Routine des Establishmentssowie des omnipräsenten Markus Meckel aufbegehrt und dabei insbesondere (und mit immer denselben dürftigen Witzen) gegen die Umweltpolitik der Grünen und die Zuwanderungspolitik der Bundesregierung wettert. Wirken die zwei, drei grundsätzlich ablehnenden politischen Positionen, die Wichmann immer wieder auffährt, zunächst noch wie ein kalkuliertes populistisches Zugeständnis an jene Wähler, die griffige Formeln für die Politik brauchen, so wird mit Fortdauer des Films allmählich klar, dass da nicht viel mehr kommt bzw. dahintersteckt. Interessant wird es immer dann, wenn Wichmann auf ein Gegenüber trifft, das seiner Meinung zu sein scheint. Dann verlieren sich politische Argumente in jovialer Anbiederung, und ein bisschen Fremdenfeindlichkeit versteht sich beinahe von selbst. Nur noch bizarr ist es, wenn Wichmann von einem älteren CDU-Parteimitglied eindringlich an die soziale Komponente der so genannten sozialen Marktwirtschaft erinnert wird und darauf nur mit erstaunter Sprachlosigkeit zu reagieren weiß.
Doch will sich der Film über den wacker bornierten und alerten Polit-Nachwuchs nicht explizit lustig machen, er ist mehr als eine Satire. Vielmehr registriert die unablässige Abfolge trostloser Episoden, die u.a. zeigen, wie der Einzel-Wahlkämpfer immer wieder allein seinen aussichtslosen, absurden Kampf gegen die Windböen des wilden Ostens kämpft, um dann schließlich mit seinem Stand von einer Frauen-Fitness-Gruppe verjagt zu werden. Oder zeigt die Kandidaten der anderen Parteien, die bei einer Diskussionsveranstaltung mit Schülern so offensiv stupide auftreten („Meine Frau legt mir manchmal ein Buch auf den Nachtschrank, aber ich bin meist zu müde zum Lesen“), dass man Wichmann demgegenüber fast schon wieder als Intellektuellen in Schutz nehmen möchte. Allerdings nur bis zur nächsten Szene. Dresen lässt sich viel Zeit, um das Potenzial der erstaunlichen Szenen auszuschöpfen, und gelangt so zu präzisen, durchaus verallgemeinerbaren Einsichten zur Dekonstruktion des Politischen. Grundsätzlich scheinen die potenziellen Wähler mehr an den Kugelschreibern des Kandidaten als an dessen politischen Vorstellungen interessiert. Fast hat es den Anschein, als steckten sie die Schreibgeräte nur ein, damit der Kandidat sie nicht länger belästigt. Hält er den Mund einmal nicht, outet man sich kurzerhand als Anhänger der rechtsradikalen „Republikaner“, dann ist das Gespräch sofort beendet. Da trifft es sich, dass Wichmann seiner Klientel gern etwas unwirsch und patzig gegenüber tritt: „Ich bin der Bundestagskandidat, alles klar?“
In solchen Momenten der Entfremdung – die in der Begegnung mit der bundespolitischen Prominenz nochmals schmerzhaft potenziert wird – bekommt der Don Quijote aus der Uckermark Züge eines Aliens, eingesponnen in den Kokon einer autonom funktionierenden Maschinerie, gelandet auf der Erde, um uns alle Jahre wieder in den Einkaufszonen aufzulauern. So ist Dresens Film komisch und hellsichtig zugleich: Mag Wichmann seine potenziellen Wähler auch zutiefst verachten, die wenigsten von ihnen merken es, weil sie ihn längst erfolgreich zu ignorieren wissen, weil sie aufgehört haben, Hoffnung an die Arbeit der Politiker zu knüpfen. „Herr Wichmann von der CDU“ dokumentiert die fundamentale Krise der bundesdeutschen Demokratie, die Entkoppelung der politischen Klasse von ihrer sozialen Basis, durchaus vergleichbar mit Winfried Bonengels „Beruf Neonazi“ (fd 30 567), der Anfang der 1990er-Jahre kontrovers die Attraktivität des Neonazismus dokumentierte. Es ist zu hoffen, dass der Film auf eine vergleichbar große Resonanz stößt und als das diskutiert wird, was er ist: ein Glücksfall des aufmerksamen politischen Dokumentarismus.
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