On the Edge (2000)

Drama | Irland/USA 2000 | 86 Minuten

Regie: John Carney

Ein sich selbstsicher und arrogant gebender 19-jähriger Ire wird nach dem Tod seines Vaters und einem Selbstmordversuch in eine Anstalt eingeliefert, wo er lernen soll, sich seinen verborgenen Frustrationen zu stellen. Während er seinen Therapeuten mit Nichtachtung straft, findet er in einem introvertierten Mitpatienten einen Seelenverwandten, ahnt jedoch nicht, dass er mit ihm die Liebe zu einer unnahbar scheinenden jungen Frau teilt. Debütfilm, der sich nicht in der Variation berühmter Genrevorbilder erschöpft, sondern sich dank des unverbrauchten, eindrucksvoll spielenden Ensembles zu einem Drama verdichtet, das das ernsthafte Psychogramm einer kommunikationsunfähigen Jugend mit subtil-unangestrengter Unterhaltungsqualität verbindet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ON THE EDGE
Produktionsland
Irland/USA
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Hell's Kitchen/Blank Page
Regie
John Carney
Buch
John Carney
Kamera
Eric Alan Edwards
Schnitt
Dermot Diskin
Darsteller
Cillian Murphy (Jonathan Breech) · Tricia Vessey (Rachel Row) · Jonathan Jackson (Toby) · Stephen Rea (Dr. Figure) · Paul Hickey (Mikey Breech)
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Oberflächlich betrachtet, ist der 19-jährige Jonathan die Coolness in Person: Kein Fünkchen überflüssige Emotion verkrampft seinen lässigen Gang. Als Letzter betritt er die Kirche, in der sein Vater aufgebart vor dem Altar liegt, überzeugt sich, ob er auch wirklich tot ist, und verlässt den Trauergottesdienst ohne überflüssige Gesten. Doch tief im Innern hat die Tragödie seines Lebens eine fatalistische Todessehnsucht ausgelöst. Als er am nächsten Tag ein gestohlenes Cabrio über die Klippen am Meer steuert, überkommt ihn das seltsame Gefühl, dass dies noch nicht alles gewesen sein kann. Wie durch ein Wunder überlebt Jonathan, leicht verletzt, aber nicht wirklich erleichtert. Um dem Zuchthaus zu entgehen, lässt er sich in eine psychiatrische Klinik vor den Toren Dublins einweisen. Chronische Suizidgefahr aufgrund einer ererbten Prädisposition zur Depression – so lautet die Diagnose vom zuständigen Arzt Dr. Figure; nichts, was man nicht durch einige Wochen Gruppentherapie heilen könne. Auch in stationärer Behandlung spielt Jonathan den Unnahbaren. Hier ist es zunächst wieder die an Überheblichkeit grenzende Selbstsicherheit, die er wie einen Schutzwall zwischen sich, den Arzt und den Mitpatienten aufbaut. Lediglich der introvertierte Toby, der sich in Schuldbezichtigungen am Unfalltod seines Bruders ergeht, bricht Jonathans emotionalen Panzer auf. Beide freunden sich an, ahnen aber nicht, dass jeder für sich noch einen weiteren Patienten ins Herz geschlossen hat: Rachel, von der niemand genau weiss, weshalb sie in Behandlung ist. Durch den Tod ihrer Mutter ist sie zwar traumatisiert, aber das scheint noch nicht alles zu sein. Während Tobys Liebe zu Rachel eher auf platonischer Ebene abläuft, nimmt Jonathan schon bald recht physischen Kontakt zu ihr auf. Dank seiner Beharrlichkeit weichen Desinteresse und Zynismus bald einem bedingungslosen Vertrauen und einem körperlichen Verlangen, das mitunter bedrohliche masochistische Züge annimmt. Mit zunehmender Intensität bemerkt Toby die Liaison. Auf einer heimlich organisierten Party ausserhalb des Sanatoriums beschliesst er, der Liebe seiner Freunde nicht mehr im Wege zu stehen. Milos Formans „Einer flog übers Kuckucksnest“ (fd 19 710) kommt einem angesichts der Grundkonstellation von John Carneys „Krankenhausfilm“ sofort in Erinnerung. Doch das Debüt des 27-jährigen Iren hat solch eine Hilfskonstruktion gar nicht nötig, handelt es sich doch bei „On the Edge“ um einen erstaunlich selbständigen Beitrag zum Thema Identitätssuche, der die „Irrenhaussituation“ nur als Ausgangspunkt nimmt, um die Unfähigkeit Jugendlicher zur zwischenmenschlichen Kontaktaufnahme zu thematisieren. Emotionale Isolierung zeigt sich hier als ein Generationen übergreifender Vorgang, aus dem zu Entfliehen nur unter der Gefahr der Selbstzerstörung möglich scheint. Dennoch ist ein Vergleich zu Formans Meisterwerk statthaft, gelingt es Carney doch, in seinem tiefgründigen Drama die Balance zwischen ambitioniertem Psychodrama und Unterhaltungskino zu wahren. Ganz im Stile des in den 90er-Jahren begonnenen Revivals des britischen Kinos verbindet er die spröde Liebesgeschichte mit schwarz-humorigen Einlagen, ohne den realistischen Grundton der Geschichte zu gefährden. Getragen wird die Grundstimmung vor allem durch die drei brillanten Hauptdarsteller, die jeden im „Behindertenkino“ Hollywoods gepflegten Hang zum Overacting vermeiden. In ihrem Spiel vermittelt sich eine Wahrhaftigkeit, die mitunter Her zerreissender ist als grosses Starkino. Dass auch Carney sein Handwerk versteht, erkennt man im präzisen emotionalen Timing, das er nicht zuletzt durch den pointierten Einsatz von Source-Musik erzielt. Wenn am Ende die Tristesse einen kleinen kathartischen Aufheller erfährt, geschieht das nicht mit einem simplen Happy End; Carney erfindet einen besonders schönen „Tearjerker“ von subtiler Ambivalenz, wie man ihn selten so stimmig und ehrlich eingesetzt sah.
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