Eine junge afghanischstämmige Journalistin, die in Kanada lebt, erhält einen Brief von ihrer Schwester aus Kandahar, in dem diese ihren Selbstmord während der nahenden Sonnenfinsternis ankündigt. Die Frau macht sich auf den beschwerlichen Weg durch eine Wüstenlandschaft und eine von Armut, Kriegselend und Unterdrückung gezeichnete Gesellschaft. Der Film beschreibt, als erstes fiktionales Werk, in Form eines Reisetagebuchs auf sachliche, aber eindringliche und fesselnde Weise die repressiven Zustände unter dem radikal-islamischen Taliban-Regime. Die Nähe zu den wirklichen Zuständen ist jederzeit sichtbar und durch die Besetzung mit authentischen Figuren tatsächlich erreicht. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik)
- Sehenswert ab 16.
Reise nach Kandahar
- | Iran/Frankreich 2001 | 85 Minuten
Regie: Mohsen Makhmalbaf
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Filmdaten
- Originaltitel
- SAFA RE GHANDEHAR | KANDAHAR
- Produktionsland
- Iran/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2001
- Produktionsfirma
- Makhmalbaf Film House/Bac Films
- Regie
- Mohsen Makhmalbaf
- Buch
- Mohsen Makhmalbaf
- Kamera
- Ebrahim Ghafori
- Musik
- Mohammad Reza Darvishi
- Schnitt
- Mohsen Makhmalbaf
- Darsteller
- Niloufar Pazira (Nafas) · Hassan Tantaï (Tabib Sahib) · Sabou Teymouri (Khak)
- Länge
- 85 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Dass der Name der südafghanischen Stadt Kandahar am Ende des Jahres 2001 praktisch täglich in der Weltpresse zu finden sein würde, konnte der iranische Regisseur Mohsen Makhmalbaf nicht ahnen, als er seinen jüngsten Film drehte. Schon vor dem 11. September lag ihm der Zustand des Nachbarlandes am Herzen, zumal dieser weitgehend hinter den damaligen Schlagzeilen verborgen war: „Die Welt kümmert sich mehr um die Zerstörung von Steinbuddhas als um das Schicksal von Menschen“, sagte er in einem Interview. Die Zustände, die er in seinem Film beschreibt, sind inzwischen weitgehend von den Ereignissen überholt worden, denn das Taliban-Regime wurde gestürzt, zuletzt in Kandahar. Doch überwunden ist dieser Teil der afghanischen Geschichte nicht; daran werden die Armut, die durch Minen verkrüppelten Männer und die erniedrigten Frauen noch lange erinnern. Das zeigt Makhmalbaf, im ersten Film dieser Art über Afghanistan, auf sehr eindringliche Weise.
Makhmalbaf erzählt die Geschichte der jungen Nafas, die aus Afghanistan stammt und in Kanada als Journalistin lebt. Eines Tages erhält sie von ihrer Schwester aus Kandahar einen Brief, in dem diese ihren Selbstmord während der nahenden Sonnenfinsternis ankündigt: Die repressiven Zustände in ihrem Land ertrage sie nicht mehr. Sofort macht sich Nafas auf den Weg, unter der Burka, dem Ganzkörperschleier, als Einheimische getarnt. Von Iran aus kommt sie nur sehr mühsam per Pferdekarren und zu Fuß voran, geleitet von nicht immer wohlmeinenden Menschen, die im Grunde aber nur ihr eigenes Überleben im Sinn haben: ein Familienvater, der sie bald zurück lässt, ein Junge, der ihr vor allem etwas verkaufen will, ein aus den USA stammender, selbst ernannter Arzt, und ein Betrüger, der aber zu ihr hält. Makhmalbaf lässt den Zuschauer nicht nur die Mühsal spüren, die Nafas auf sich nimmt bei ihrer Reise durch endlose Wüstenlandschaften. Er öffnet den Blick auch auf die Lebensbedingungen vor Ort, die erbärmlicher kaum sein könnten. Die geringeren Leiden, die dem amerikanischen Dorfheiler vorgetragen werden, kann dieser meist mit ein wenig Brot oder ein paar Dollars lindern sowie dem Hinweis, das Schmutzwasser nicht ungekocht zu trinken. Dass er die Frauen nur durch ein Loch in einem Vorhang behandeln darf, wiegt da weniger als die Tatsache, dass besonders die verwitweten unter ihnen aufgrund des Arbeitsverbotes für Frauen bettelarm sind. Die größeren Leiden, die meistens durch Landminen entstanden sind, versuchen Rote-Kreuz-Trupps mittels Beinprothesen zu beheben, die aus unsichtbaren Flugzeugen einmal im Jahr abgeworfen werden. Diese surrealistisch wirkende Szene bringt auch auf den Punkt, mit welch lächerlichen Maßnahmen sich die internationale Gemeinschaft vor dem 11. September in Afghanistan aus der Affäre ziehen wollte, nachdem sie das Land zum politischen Spielball degradiert hatte. Makhmalbaf zeigt das ganze Ausmaß des Elends, die Männer, die um ein Bein betteln und die jungen Frauen aus dem Westen, die darüber entscheiden müssen, wer eine dieser Prothesen erhält. Das wirkt weder schockierend noch Mitleid heischend noch polemisch, es ist die Wahrheit hinter den Schlagzeilen – zumal Makhmalbaf Wert darauf legt, dass es sich bei den gezeigten Figuren überwiegend um authentische Personen handelt. Seine Heldin spricht ihre Gedanken zu den Erlebnissen auf ihren Walkman und kommentiert sie dadurch, aber längst ist sie nicht mehr nur eine fremde Beobachterin, sondern wird von den Verhältnissen eingenommen. Die eher pessimistische Grundstimmung vermittelt ein Gefühl dafür, dass sich das Land ohne Hilfe von außen nicht selbst retten konnte. Makhmalbaf hat sich in seinen Filmen immer für die Armen und Ausgestoßenen interessiert, vorwiegend allerdings im eigenen Land. Das Märchenhafte, das besonders seine Jugendfilme kennzeichnet, wird hier von einem sachlichen Reisetagebuch abgelöst. Dennoch sind es Geschichten wie diese, die oft weit mehr bewegen als die üblichen, wenngleich gut gemachten Fernsehdokumentationen.
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