Auf der Kanalinsel Jersey lebt Grace, eine herrische Frau, mit ihren beiden Kindern Anne und Nicholas in einem einsam gelegenen Herrenhaus im viktorianischen Stil. Ein großer Garten mit einem eigenen Familienfriedhof umgibt das Haus. Das Weltgeschehen dringt kaum zu den dreien vor – der zweite Weltkrieg ist zuende, aber Grace Mann ist nicht zurückgekehrt. An einem grauen Morgen stehen neue Dienstboten vor der Tür, denn das alte Personal hatte sich bei Nacht und Nebel abgesetzt. Für die Neuen ist die Atmosphäre des Hauses wenig einladend: die Türen müssen stets geschlossen bleiben, die Vorhänge sind zugezogen, kein Licht darf eindringen, denn die beiden Kinder leiden an einer gefährlichen Allergie, direktes Sonnenlicht würde sie töten. So wachsen das Mädchen und der Junge in einer hermetisch abgeriegelten Welt auf – die fanatisch religiöse Mutter hat die Erziehung in die eigene Hand genommen; das bedrückende Halbdunkel des Hauses verstärkt noch den strengen, auf Schuld und Gehorsam aufbauenden Unterricht. Den Kindern, besonders der Älteren, bleibt nur die Flucht in die Fantasie – zu den „Anderen“; Wesen, die in einem verlassenen Zimmern wohnen, darunter besonders ein Junge in ihrem Alter, nicht so feige wie ihr kleiner Bruder, den die Geschichten der Schwester von den „Anderen“ angstschlotternd unter die Bettdecke zwingen. Gleichzeitig fürchten die Kinder die Wut der strengen Mutter, denn auch Grace scheint plötzlich besessen von der Präsenz anderer Wesen in ihrem Haus und stößt bei der Suche auf seltsame Fotografien von Verstorbenen. Eine Wendung scheint sich anzudeuten, als Graces im Krieg verschollener Mann im Nebel zurückkehrt.
„Los otros“ („Die Anderen“) knüpft an die gängigen Konventionen des romantischen Gruselgenres an: eine attraktive, aber vom Leben verbitterten Frau, zwei schwierige Kinder und ein schreckliches Geheimnis. In einer fast altmodisch klaustrophobisch-opulenten Innenausstattung, ganz im Stil großer Studiofilme der 40er-Jahre, deutet alles zunächst auf das Vorhersehbare hin – Gespenster, vielleicht ein Fluch, ein schreckliches Verbrechen in der Vergangenheit, alle Register, die das Kino Übersinnlichen bis heute unverändert parat hält. Aber in dem Augenblick, in dem man alles begriffen zu haben glaubt, nimmt die Geschichte eine überraschende Wendung – eine ungewöhnliche Offenbarung aus dem Reich der Toten – eine spiritistische Sitzung, die alles in ein andere Licht setzt und die Wahrheit wie die Wahrnehmung der Protagonisten vollkommen umstürzt. Hier kommt das Doppelbödige des Thrillers zum Tragen – das Vertraute wird unheimlich – auch wenn der Schrecken gedämpft bleibt – überlagert von einer Trauer, die um das Unausweichliche kreist.
Der 29-jährige Alejandro Amenábar ist ein begeisterter Anhänger klassischer Genrefilme und im selben Moment Autorenfilmer per se – er schreibt nicht nur seine Drehbücher, sondern komponiert auch die Filmmusik selbst. Amenábar erregte bereits mit seinem Erstlingswerk „Tesis“
(fd 32 556) für Aufsehen – einem Thriller über Snuff-Movies an der filmwissenschaftlichen Fakultät in Madrid, Amenábars eigener Fakultät, die er nach dem Film verließ und von der er sagte, das er von Hitchcocks Filmen mehr gelernt habe als von all seinen Dozenten. Oder „Virtual Nightmare – Open your eyes“
(fd 35 014), in dem er ein faszinierendes Geflecht aus Albtraum und Wahrnehmung konstruiert. Wie in seinen vorherigen Filmen ist auch hier das eigentliche Thema, das hinter einer brillanten Genrekonstruktion steht, die Suche nach einer verborgenen Schuld und deren Überwindung. Amenábar spielt mit den Genreerwartungen des Zuschauers, wobei er sich der Vorgaben und Regeln des romantischen Gruselthrillers wie ein Stierkämpfer seiner Capa bedient, um die Erwartungen des Publikums in die Irre laufen zu lassen. In der spanischen Filmgeschichte wurde ein Film noch selten vor oder während seiner Entstehung so zur Legende wie „The Others“ – strickten PR-Strategen doch einen Schleier um Dreharbeiten und Drehbuch: die Co-Produktion mit Tom Cruise, Außenszenen im nordspanischen Asturien und Nicole Kidmans intensive Arbeit mit den beiden Kindern. Was „Die fabelhafte Welt der Amélie“
(fd 34 999) für Frankreich oder „Der Schuh des Manitu“
(fd 34 974) für die deutsche Filmbranche markiert, gilt auch für „Los otros“: er avancierte zum erfolgreichsten Film der spanischen Filmgeschichte. Dabei überzeugt das Drama neben seiner brillanten schauspielerischen Leistungen, besonders im Zusammenspiel der Mutter und den beiden Kindern, auch durch eine faszinierende erzählerische Struktur – ein brillant gemachter Thriller, der zunächst auf fast provozierende Weise vorhersehbar wirkt. In diesem Sinne ist „Los Otros“ fast wie ein Schwanengesang auf die klassischen Limitierungen des Genres.