Haus Bellomont

Drama | Großbritannien 2000 | 135 Minuten

Regie: Terence Davies

Das Schicksal einer schönen jungen Frau, die im New York der Belle Epoche ihren Platz in der oberen Gesellschaft zu verteidigen versucht, aber an den eigenen Grenzen und Ansprüchen sowie an der Selbstgefälligkeit und Heuchelei ihrer Umgebung scheitert. Aus Edith Whartons Roman entstand ein ungewöhnlicher Film, der historische Genauigkeit und ironische Kritik mit einer komplexen psychologischen Studie der Hauptfigur verbindet. Trotz aller äußerlichen Pracht der Ausstattung bedienen sich Regie und Darstellung eines asketischen, tableauhaften Stils, der es dem Zuschauer ermöglicht, die rein historische Perspektive zu durchbrechen. Einer der besten Filme seines Genres, dem eine eigenständige, zugleich völlig adäquate Umsetzung der literarischen Vorlage gelungen ist. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE HOUSE OF MIRTH
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Three River/The Arts Council of England/Film Four/The Shottish Arts Council/Glaswog Film Fund
Regie
Terence Davies
Buch
Terence Davies
Kamera
Remi Adefarasin
Musik
Adrian Johnston
Schnitt
Michael Parker
Darsteller
Gillian Anderson (Lily Bart) · Eric Stoltz (Lawrence Selden) · Dan Aykroyd (Gus Trenor) · Anthony LaPaglia (Sim Rosedale) · Laura Linney (Bertha Dorset)
Länge
135 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Liebesfilm | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs.

Verleih DVD
WinklerFilm/Al!ve (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Etwa in der Mitte des Films, der die zwei entscheidenden (letzten) Jahre im Leben der schönen Lily Bart erzählt, präsentiert sich die junge Frau während eines gesellschaftlichen Empfangs sekundenlang als „lebendes Porträt“, als „Sommer“ nach dem Vorbild des Rokoko-Malers Jean-Antoine Watteau. Es ist natürlich nicht nur eine Simulation des schwerelosen Watteau-Stils, die erence Davies hier quasi als Gegenpol zu der selbstverliebten, hypokritischen New Yorker High Society des beginnenden 20. Jahrhunderts anstrebt, sondern auch eine Versinnbildlichung der jungen Frau, die mit so viel narzisstischer Grazie und gesellschaftlicher Naivität die Unausweichlichkeit ihres eigenen Untergangs zelebriert, dass einem angst und bange werden kann. Alles, was über Lily Bart zu sagen ist, drückt sich in diesem Porträt aus: die Eleganz, die versteckte Sexualität, die Schicksalhaftigkeit ihrer selbstzerstörerischen Weiblichkeit und die Unfähigkeit, sich aus den Konventionen der Zeit zu befreien. Nur für Augenblicke geht der Vorhang auf und gibt den Blick frei auf das Innere dieser verletzlichen und verletzten Frau, dann macht die Szenerie schon wieder Platz für die Scharade der Konversationen, in denen sich die bange Seele zeitgemäß verhüllt, und für das unbarmherzige Spiel der Begierden und Intrigen, in die Lily unabänderlich verstrickt ist, auch wenn sie häufig an ihnen keinen Anteil haben möchte. Lily Bart, so wie Edith Wharton sie in ihrem Roman und Terence Davies in seinem Film beschreiben, ist das Produkt einer Gesellschaft, von der Wharton in ihrer 1934 erschienen Autobiografie sagt, sie sei eine Ansammlung verantwortungsloser Vergnügungssüchtiger gewesen. Lily ist ein „so offensichtliches Opfer der Zivilisation, der sie entstammt, dass die Glieder ihres Armbands wie Fesseln erscheinen, die sie an ihr Schicksal ketten“ (Wharton). Im Luxus aufgewachsen und an die Annehmlichkeiten der Oberklasse gewöhnt, gehören Geld und „Lebensstil“ zu ihrer Existenz wie die Luft zum Atmen. Was ihr zum Verhängnis wird, ist ihr Bestreben, vor sich selbst bestehen zu können, statt sich immer nur Spielregeln zu unterwerfen, die sie nicht richtig versteht und die sie (vielleicht) auch gar nicht verstehen will. Lily ist in einem Alter, wo man von ihr die Wahl eines Lebensgefährten erwartet, und die Situation, in der sie sich befindet, gebietet ihr auch, sich unverzüglich mit dem Gedanken an eine Heirat abzufinden. Pekuniär lebt sie in bedrängter Lage. Ihr kleines persönliches Einkommen reicht nicht aus, den gesellschaftlichen Status aufrecht zu erhalten, in dem sie sich bewegt, und die Aussicht auf relevante Zuwendungen seitens ihrer Tante liegt in nebulösem Dunkel. Lily ist sich ihrer prekären Situation bewusst. Umgeben von einer Welt, deren angenehmen Wohlstand sie nicht opfern, deren Doppelzüngigkeit sie aber auch nicht widerstandslos adaptieren will, kann sie sich jedoch zu keinem Entschluss durchringen. Fast noch ein wenig kindhaft, wenn auch mit allen verführerischen Eigenschaften ausgestattet, spielt sie mit dem Schicksal, bis sie dessen Unkalkulierbarkeit und Unbarmherzigkeit zum Opfer fällt. Ist es voraussehbare Langeweile oder der Zweifel an der erreichbaren gesellschaftlichen Position, die sie im letzten Augenblick immer wieder vor einer Bindung an den Anwalt Lawrence Selden und diesen vor einer Ehe mit Lily zurückschrecken lässt? Ist es Naivität oder Unerfahrenheit auf dem gesellschaftlichen Parkett, die sie auf gunstvolle finanzielle Hilfe durch den Ehemann einer Freundin hoffen lässt, während dieser eindeutige Gegenleistungen von ihr erwartet? Ist es Charakterstärke, Stolz oder Dummheit, was sie davon abhält, den Beweis einer ehelichen Untreue, den sie gegen ihre vorgebliche Freundin Bertha in Händen hält, zu ihrem eigenen Vorteil auszuspielen? „Haus Bellomont“ ist ein Charakterstück, aber hinter dem Entwurf der ebenso sensiblen wie passiven Protagonistin lässt sich eine stets gegenwärtige Kritik an der Gesellschaft der Belle Epoche entdecken, wie sie auf ähnliche Weise den Arbeiten Harold Pinters und Joseph Loseys zu Eigen ist. Wer sich nicht den Regeln und Gepflogenheiten der „upper class“ unterwirft, wer nicht am Roulette der selbstgefälligen und selbstbestätigenden Vergnügungen teilnimmt und wer sich nicht den aristokratischen Zwängen des von Erbschaft und Kapital beherrschten Geschäftslebens anpasst, der sieht sich rasch in die Position eines Zuschauers verbannt. Lily und Selden sind solche Zuschauer, jeder auf seine Weise unfähig, sich aus vollem Herzen an dem sozialen Leben der Umwelt zu beteiligen, aber auch nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. Lily büßt ihr Zögern und ihre geringe Bereitschaft, einer heuchlerischen Gesellschaft mit gleicher Münze heimzuzahlen, mit sozialem Abstieg, Depression und Tod, Selden mit der Erkenntnis seines eigenen Versagens. Das Leben aber – mit all seinem schönen Schein – wird unverändert weitergehen. Für wen das Herz der Autorin schlägt, deutet bereits der (Original-)Titel an. „The House of Mirth“ bezieht sich auf eine Stelle im Buch Salomons (7.4.): „Das Haus der Weisen ist im Haus der Trauer, aber das Herz der Toren ist im Haus der Freude.“ Es ist das zweite Mal, dass Davies („Entfernte Stimmen – Stilleben“, fd 27 151; „Am Ende eines langen Tages“, fd 29 953) nicht auf ein autobiografisches Thema zurückgreift. Doch bei aller retrospektiven Detailgenauigkeit, mit der er die Geschichte ausstattet, vermittelt sein Film beständig das Gefühl eigenen Betroffenseins. Während Martin Scorseses „Zeit der Unschuld“ (fd 30 532), eine andere Edith-Wharton-Verfilmung, in ihrer bewundernswerten atmosphärischen Opulenz den Zuschauer vollkommen zurückversetzt in eine vergangene Zeit, zwingt Davies – nicht zuletzt durch die häufig präsente unterschwellige Ironie der Dialoge – immer wieder zur Abstrahierung, sodass man nirgends von Stimmungen, Dekors und zeittypischen Verhaltensweisen überwältigt wird. Ein Zitat von Joseph Losey, das aus der Zeit der Dreharbeiten zu dessen Film „Der Mittler“ (fd 17 504) stammt, trifft auch auf Davies’ Arbeitsweise zu: „Das Erste, was man zu tun hat, ist, alles wegzuwerfen, alles hinauszuwerfen, jeden Gegenstand, jedes Dekor, alles wegzuschaffen und dann anzufangen, es auswählend wiederherzustellen.“ Trotz der notwendigen Pracht der Ausstattung ist „Haus Bellomont’“ ein asketischer Film, der in zahllosen Sequenzen das Halbdunkel bevorzugt und der seine Story mehr in statischen Tableaus erzählt als in handlungsgetriebenen Szenenfolgen. Davies hat eingehend die Gemälde von John Singer Sargent studiert; der Einfluss ihrer Bildkomposition auf die optische Gestaltung ist unverkennbar und verleiht vor allem den Interieurs eine sehr spezifische Qualität. Weitgehend auf Musik-Illustration und auf „artistischen“ Umgang mit Kamera und Schnitt verzichtend, hält Davies nicht zur genreüblichen Identifikation mit den Personen an, sondern zwingt den Betrachter zu einer Art klaustrophobischer Anteilnahme. Nicht die Heldin allein ist zögernde Beobachterin ihrer Umwelt, sondern auch das Publikum sieht sich mehr und mehr in die Lage versetzt, es ihr gleich zu tun. Durch diese kunstvolle Duplizität der Betrachtungsweise ermöglicht es Davies, die historische Perspektive zu durchbrechen und das psychologische und gesellschaftliche Drama auch aus heutiger Blickrichtung zu sehen und zu beurteilen. „Für mich ist die Vergangenheit kein fremdes Land. Ich sehe sie nicht als vergangen an. Ich sehe sie sehr viel mehr als Bestandteil von Gegenwart und Zukunft“ (Davies). Ein Wort muss noch zur Leistung der Hauptdarstellerin gesagt werden. Gillian Anderson ist durch eine ganz und gar andere Rolle bekannt: die der Agentin Scully aus der Fernsehserie „Akte X“. Sie als Lily Bart auf der Leinwand zu sehen, ist nicht nur wegen der Verschiedenartigkeit der beiden Figuren, sondern auch wegen der Anforderungen, die diese Rolle stellt, eine Überraschung. Es gibt kaum einen Augenblick im Film, während dem Gillian Anderson nicht im Bild ist. Das bedeutet, dass das Gelingen beständig davon abhängig ist, wie überzeugend sie den komplizierten Charakter der Hauptfigur darzustellen vermag. Hinzu kommt, dass sie sich wohl nie auf den Text allein verlassen konnte, da nahezu alles, was Lily sagt, nicht die ganze Wahrheit ist. Jeder Satz, ja jede Verhaltensweise verschweigt etwas oder hat eine verborgene Bedeutung. Im asketischen Konzept des Regisseurs war auch kein Raum, zu dramatischen Gesten Zuflucht zu nehmen. Alles, was der Film über Lily zum Ausdruck bringt, muss von innen kommen. Nur eine große Schauspielerin kann dieser Rolle gerecht werden. Gillian Anderson hat sich fraglos als solche bewiesen.
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