Das Lied vom jungen Akkordeonspieler

- | Kasachstan 1994 | 90 Minuten

Regie: Satybaldy Narymbetow

Ein Kaleidoskop heiterer und ernster Episoden, angesiedelt um einen Jungen in einem kasachischen Bergwerksdorf, mit dem der Regisseur seine eigene Kindheit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg dramatisiert. Auf seiner poetischen Spurensuche, die trotz politischer Anspielungen nie als Abrechnungsdrama angelegt ist, entdeckt er Skurriles und Erhabenes, skizziert seine erste Liebe und den Kosmos des Dorfes, in dem Kasachen, Russen, Japaner und Juden zusammenleben. Auch die Kraft des Kinos wird beschworen: durch ein Zitat aus Chaplins "Lichter der Großstadt", dessen tiefer Humanismus für den Helden - und für den Regisseur - prägend wurde. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ZHIZNEOPISANIYE MOLODOGO AKORDEONISTA
Produktionsland
Kasachstan
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Kazachfilm Studio/Te Miras Filmstudio
Regie
Satybaldy Narymbetow
Buch
Satybaldy Narymbetow · Istol Ismaganbetova
Kamera
Khasan Kydyralijew
Musik
Giovanni Battista Pergolesi
Schnitt
Svetlana Hyarova
Darsteller
Daulet Taniev · Petja Chaitovitch · Bachtshan Alpeissov · Rajchan Aitchojanova · Sovetbek Shumadilov
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Die Idee ist fast so alt wie das Kino selbst: Regisseure kehren in ihre eigene Kindheit zurück, lassen Bilder, Geräusche, Stimmungen aus vergangenen Tagen auf der Leinwand auferstehen. Die Jugend, eingebettet ins Dämmerlicht der Romantik, eine Reise in die Urgründe, Bekenntnis zur Sehnsucht nach verlorener Geborgenheit. Meist wirken diese Filme verklärt, wie von einem sanften Schleier bedeckt. Manchmal aber fallen auch grelle Schlaglichter auf die Zeitgeschichte. Immer wieder entstanden aus solchen Reminiszenzen Meisterwerke: Fellinis „Amarcord“ (fd 18 758), Tarkowskijs „Der Spiegel“ (fd 20 977) oder Truffauts „Sie küßten und sie schlugen ihn“ (fd 8 514). An solche Klassiker knüpft „Das Lied vom jungen Akkordeonspieler“ an, für das Satybaldy Narymbetov (geb. 1964) in seinen kasachischen Heimatort Atschissai zurückkehrte. Seine Skizzen aus der Zeit unmittelbar nach dem Krieg gerieten zum kleinen, unaufgeregten Welttheater, zur menschlichen Komödie mit tragischen Passagen - ein kleines filmisches Juwel, das auf vordergründige Botschaften, gar auf eine Dramaturgie der Abrechnung verzichtet, ein ebenso politisches wie poetisches Werk.

Narymbetov macht das Bergwerksdorf zum Schmelztiegel der Geschichte: Hier leisten japanische Kriegsgefangene Schwerstarbeit; hierher wurde die aus Petersburg stammende Familie des Jungen Jurij verbannt, dessen Vater als Jude und „Kosmopolit“ im Gefängnis sitzt; auch der Dorfpolizist, der seinen Dienst weit weg von Frau und Kindern versieht, stammt aus dem fernen Russland. Fast jede Figur des Films hat ihre von den Zeitumständen geprägte Besonderheit; daraus filtert Narymbetov eine Reihe heiterer und ernster Episoden, die sich zu einem Kaleidoskop eigenwilliger Erinnerungspartikel fügen. Da sind die beiden Japaner, die im Hof des Elternhauses sitzen, Tee trinken und mit dem Vater diskutieren: eben noch waffenstarrende Feinde, jetzt friedliche Zivilisten. Oder der Kulturhausleiter, der seine Söhne nach den in Amerika hingerichteten Arbeitern Sacco und Vanzetti benannte. Da ist der Schießbudenbesitzer mit griechischer Abstammung; die Dorfhure, die während ihrer Arbeit schmetternd lacht; der Polizist, der eine Schallplatte mit einem Gruß für seine Frau bespricht, wobei die Bitten und Flüche durch den Ortsfunk übertragen werden. Bei keiner Episode hält sich Narymbetov lange auf, kaum eine scheint seine Hauptfigur, den Jungen Esken, über das eigentliche Ereignis hinaus länger zu beschäftigen. Und doch bleibt von allen eine Spur in ihm zurück.

Jene Eindrücke, die sich am tiefsten festsetzen, werden freilich doch aus dem Reigen hervorgehoben, indem sie Narymbetov vergleichsweise ausführlich skizziert; so etwa, wenn Esken an einem Stromleitungsmast nach oben klettert, um über eine Mauer hinweg ein wenig Kino zu erhaschen. Für die Erwachsenen läuft Chaplins „Lichter der Großstadt“ (fd 1 324), und Esken erwischt genau die Szene, in der das sehend gewordene Blumenmädchen ihren Retter, den Landstreicher Charlie, wieder erkennt. Ein magischer Moment, auch für Esken. Nicht weniger eindrucksvoll gelang die Schilderung der ersten, unschuldigen Liebe. Ebenso wie die beiden Männer, die sich am Tanzabend um die neue Bibliothekarin Guljan streiten, lässt es sich auch der Junge nicht entgehen, am anderen Tag in der Bibliothek aufzutauchen. Die Bitte, etwas ausleihen und sich in den Regalen umsehen zu dürfen, ist nur Vorwand dafür, der schönen jungen Frau nahe zu sein. An das Ende dieser Szene setzt Narymbetov eine gleichsam „intellektuelle“, als Konstruktion erkennbare Pointe: Esken, der seiner Abneigung gegen einen „Nebenbuhler“, einen Parteibürokraten, Ausdruck verleihen will, benutzt dazu ausgerechnet Dostojewskis Roman „Der Idiot“, dessen Titel groß im Bild erscheint.

In zwei entscheidenden Szenen bleibt die Kamera besonders lang auf Eskens Gesicht: Das erste Mal spielt er Akkordeon für die Tanzenden, die Finger bewegen sich automatisch, während die Augen an Guljan kleben. Dann sitzt Esken auf einem Baum und beobachtet heimlich, wie ein heimgekehrter Armist das Mädchen küsst. Für den Jungen ist das eine bittere Enttäuschung: Narymbetov lässt ihn erst schweigen, dann schreien und verzweifelt die Äste des Baumes schütteln, die Äpfel fallen auf das Paar herab. Der Dritte im Bunde aber, der Übriggebliebene, sitzt auf dem kahler werdenden Ast ­ eine faszinierende Metapher. Zwischen den Gleisen der Kohlenbahn, dem Staub der Abraumhalden, dem Dorf mit seinem Park, dem Kulturhaus und einigen Ruinen in der Umgebung fand Kameramann Hasan Kidiraliev flirrende Bilder. Meist fotografierte er in klassischem Schwarz-Weiß; nur Eskens Träume und Visionen wurden farbig festgehalten. In diesen rahmenhaften Momenten verschwinden die Eltern im Nebel der Vergangenheit (tatsächlich wurde der Vater, nach der Denunziation durch einen Nachbarn, wegen seines Umgangs mit den Japanern verhaftet), oder es taucht eine mythische Figur auf, eine in Weiß gekleidete Frau auf einem Esel, für Narymbetov das Sinnbild für ewige Fruchtbarkeit. Am Schluss vereinen sich die Gestalten des Films, die Lebenden und die Toten, die Verschwundenen und Vergessenen, zu einem Reigen. Mit der Kraft der Imagination beschwört der Regisseur noch einmal jene, die ihm einst nahe standen. Auch die knappe, aus der Totale aufgenommene Szene, in der sich Esken und der japanische Soldat an einem Ehrenmal für die Opfer des Krieges verneigen, ist kein Fremdkörper in diesem von tiefer Menschlichkeit geprägten, souveränen und undogmatischen Film.
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