Felicia, mein Engel

Psychothriller | Kanada/Großbritannien 1999 | 116 Minuten

Regie: Atom Egoyan

Eine junge Irin, schwanger und arbeitslos, reist nach England, um ihren Geliebten zu suchen. Vor einer Fabrik in Birmingham begegnet sie einem freundlichen älteren Herren, der ihr hilft und sich rührend um sie kümmert. Hinter der Maske des fürsorglichen Kantinenchefs verbirgt sich jedoch eine monströse Seele. Subtiler Psychothriller, dessen verschachtelte Erzählstruktur die Abgründe der exzellent gespielten Charaktere deutlich macht. Suspense und Schrecken liegen in der geheimen Seelenverwandtschaft der unterschiedlichen Protagonisten, die nicht als Täter, sondern konsequent als Opfer familiärer Umstände betrachtet werden. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FELICIA'S JOURNEY
Produktionsland
Kanada/Großbritannien
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Icon Production/Alliance Atlantis Pictures
Regie
Atom Egoyan
Buch
Atom Egoyan
Kamera
Paul Sarossy
Musik
Mychael Danna
Schnitt
Susan Shipton
Darsteller
Bob Hoskins (Hilditch) · Elaine Cassidy (Felicia) · Arsinée Khanjian (Gala) · Sheila Reid (Iris) · Nizwar Karanj (Sidney)
Länge
116 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Psychothriller
Externe Links
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Heimkino

Die Special Edition enthält u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs.

Verleih DVD
Kinowelt (2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Zum zweiten Mal hat sich der kanadische Autorenfilmer Atom Egoyan von einem Roman zu einem lyrischen Psychothriller inspirieren lassen. Nach William Trevors Novelle „Felicia’s Journey“ erzählt Egoyan die Geschichte einer geheimnisvollen Beziehung zweier unterschiedlicher Charaktere. Hatte er in „Das süße Jenseits“ (fd 33 033, nach dem Roman von Russel Banks), ähnlich wie Ang Lee in „Der Eissturm“ (fd 33 888) und Paul Schrader in „Der Gejagte“ (32 978), eine schneebedeckte Landschaft als Metapher für die Gemütslage seiner Protagonisten gewählt, so ist in „Felicia, mein Engel“ das Eis des kanadischen Winters dem fruchtbaren Grün der britischen Inseln gewichen. Vielleicht stellt sich die Spannung deshalb ungleich schleichender ein als in dem 1997 preisgekrönten Film. Umsäumt von frischen Wiesen, verlieren selbst die Kühltürme der mittelenglischen Industrielandschaft manches von ihrer bedrohlichen Wirkung. „Felicia, mein Engel“ ist - wie schon „Exotica“ (fd 31 113) und „Das süße Jenseits“ - als Irrfahrt für Kopf und Seele konzipiert. Ein filmisches Universum, das irgendwo zwischen Faszination, Erschrecken und der Sehnsucht nach familiärer Wärme oszilliert.

Virtuos montierte Rückblenden, Traumbilder und Wünschen bilden ein Bilder-Puzzle, mit dem Egoyan einmal mehr mit dunklen Fantasien und Albträumen konfrontiert, und der Zuschauer abrupten Sprüngen zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen folgen muss, durch die der Film die Seelenzustände seiner Protagonisten freilegt. Während Hilditch, ein freundlicher, älterer Herr in seinem großen Haus jahrelang gewachsene Zwangsrituale pflegt, schifft sich Felicia, eine junge arbeitslose Irin, nach England ein. Sie ist schwanger und sucht ihren Freund Johnny, der in der Nähe von Birmingham arbeiten soll. Hilditch arbeitet der Küchenchef einer großen Fabrik und ein angesehener Mann. In seinem vollgestopften Haus scheint jedoch die Zeit stehen geblieben zu sein. Wenn er in seiner Küche hantiert, steht ein Schwarz-Weiß-Monitor auf der Anrichte, auf dem eine Kochsendung aus den 60er-Jahren läuft. Gala, die französische Meisterköchin (und seine Mutter, wie man später erfährt), bereitet darin einen opulenten Lammbraten, den der Kantinenchef Handgriff für Handgriff nachkocht. Dann sieht man ihn in seinem Esszimmer an einem festlich gedeckten Tisch. In der Küche läuft immer noch die Sendung, während er den Braten allein verzehrt. Auf der Suche nach Johnny stößt Felicia auf den Hilditch, der ihr eine Mitfahrgelegenheit verschafft und ein paar Tage später anbietet, bei ihm zu wohnen. Rückblenden legen die Familienverhältnisse der beiden offen. Felicia ist 17 und glaubt an die Liebe und nicht das, was ihr Vater oder Johnnys Mutter sagen. Ihre Farbe ist die Hoffnung, und ihre Reise ist eine Bildungsreise, an deren Ende, trotz oder gerade wegen ihrer grausigen Erlebnisse, eine gereifte Erwachsene steht. Hilditchs Farbe hingegen ist ein verblasstes Grün. Er ist eins mit der trostlosen Industrielandschaft. Grün ist seine Jacke und sein Auto, sogar sein Schlafanzug ist grün gemustert. Grün ist auch die Sequenz, die ein Fernsehteam im Garten seiner Mutter zeigt und eine Vorstellung davon gibt, wie aus dem braven Jungen ein böser wurde. Ausschnitte aus den Sendungen seiner Mutter zeigen, wie der von einer erdrückenden Liebe buchstäblich aufgeschwemmte Junge als Vorzeigeobjekt ihrer Kochshow missbraucht wurde. Auf eines dieses Bänder schreibt Hilditch „Irish Eyes“. Es zeigt Felicia auf dem Beifahrersitz des grünen Autos, wie sie - ähnlich vieler anderer Mädchen davor - dem Kantinenchef ihre Geschichte erzählt. Mädchengesichter, die lachen und weinen. Harmlose Bilder, die eindringlich Gewissheit von einem dunklen Geheimnis geben.

Hilditchs Erinnerungen haben einen besonders dunklen Thrill, vom Soundtrack bis zum Schnitt. Beispielsweise, wenn ein Strom der Bilder von der Tänzerin in einer Fernsehsendung zur blutgetränkten „Salome“-Aufführung überblendet, die das Kind mit seiner Mutter besuchte. Dass Atom Egoyan seine Protagonisten konsequent als Opfer begreift, macht auch die ironisch gewendete Läuterungsszene deutlich. Eine Predigerin mit dem bedeutungsschweren Namen Miss Calligary stößt diese Entwicklung unfreiwillig an. So kann sich am überraschenden Schluss der obsessive Hilditch neben einem frisch ausgehobenen Grab seiner Schuld bewusst werden.
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