Drama | Großbritannien 1998 | 99 Minuten

Regie: Tim Roth

Ein 15-jähriger Junge entdeckt, dass sowohl seine 18-jährige Schwester als auch der neu geborene Säugling von seinem Vater sexuell missbraucht werden. Nach einer Auseinandersetzung sticht er den Vater nieder. Ein beklemmendes, in intensiven Bildern eingefangenes Familiendrama, angesiedelt an der tristen südwestenglischen Küste. Dank der einfühlsamen Inszenierung sowie der schauspielerischen Leistungen wirft der Film einen emotional wie analytisch überzeugenden Blick auf das brisante Thema des sexuellen Missbrauchs in der Familie. Dabei stellt er sich vorbehaltlos auf die Seite der Opfer, ohne die Gegenseite zu dämonisieren. Ein zutiefst menschlicher Film, geprägt von seiner künstlerischen Verantwortung gegenüber dem Sujet. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE WAR ZONE
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Film Four/Portobello Pictures/Sarah Radclyffe
Regie
Tim Roth
Buch
Alexander Stuart
Kamera
Seamus McGarvey
Musik
Simon Boswell
Schnitt
Trevor Waite
Darsteller
Ray Winstone (Vater) · Tilda Swinton (Mutter) · Lara Belmont (Jessie) · Freddie Cunliffe (Tom) · Aisling O'Sullivan (Carol)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
In den letzten Jahren ist die lange Zeit verdrängte Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene - oft durch die eigenen Eltern oder nahe Anverwandte - immer stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Auch der Film hat sich seitdem in unterschiedlicher Form auf diese brisante Thematik gestürzt, mal reißerisch und voyeuristisch, mal als „modische“ Zugabe, eingewoben in problemüberfrachtete (Familien-)Dramen. Selten aber hat sich ein Kinofilm so ernsthaft und unspektakulär mit dem Leiden der Opfer auseinander gesetzt wie die erste Regiearbeit des Schauspielers Tim Roth. Äußeres Indiz für die Betroffenheit, aber auch die Angst vor der Beschäftigung mit diesem Thema, das gelegentlich auch die eigene Sozialisation betrifft, ist die Tatsache, dass dem Autor und Verfasser der Romanvorlage, Alexander Stuart, der schon zugesprochene Preis „Whitbread Award“ kurz vor der Verleihung wieder aberkannt wurde - weil sich ein Jury-Mitglied durch den Inhalt persönlich angegriffen fühlte.

„The War Zone“ - das ist nicht nur jene im Südwesten Englands liegende raue und von Bunkern gesäumte Küste der Grafschaft Devlon, in der die Menschen aufhören, Englisch zu sprechen, sobald die Touristen-Saison vorbei ist; zur „War Zone“ („Kriegszone“) entwickelt sich auch das abseits gelegene Haus, in das der 15-jährige Tom und seine 18-jährige Schwester Jessie mit ihrem Vater und der kurz vor der Niederkunft stehenden Mutter gezogen sind - und das nicht nur, weil Tom in dieser öden Gegend seine Londoner Freunde vermisst und frustriert während der Osterferien herumhängt, sondern auch, weil er zufällig Jessie und seinen Vater im Bad beobachtet und die zweideutige Situation einen schrecklichen Verdacht in ihm nährt. Obwohl Jessie seine Vorhaltungen zu entkräften versucht, werden Toms Befürchtungen schließlich bestätigt. Er muss mit ansehen, wie sein Vater Jessie in einem Bunker vergewaltigt und der gerade geborene Säugling mit Scheiden-Bluten ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Wie in Trance greift Tom nach einem Küchenmesser und sticht seinen Vater nieder.

Man wird die Bilder nicht so leicht vergessen: Bilder einer „geschundenen Kreatur“, eines an Körper und Seele verletzten Menschen, wenn man in Jessies schmerzverzerrtes Gesicht blickt, wenn sich ihre Tränen der Scham und Angst mit der Hoffnung auf ein Ende ihres langen Leidens mischen, oder wenn sich im Blick der Mutter erstmals eine unheilvolle Ahnung spiegelt, als Tom sie bittet, das Baby vom Vater fern zu halten. Obwohl sich Buch und Inszenierung klar auf Jessies Seite stellen, zeigen sie an einem vermeintlichen Widerspruch auch auf, wie Komplex die Verstrickungen zwischen Opfer und Täter sind: Obwohl Jessie schon erwachsen ist, scheint für sie der einzige Ausweg aus ihrem Martyrium der bevorstehende College-Besuch im fernen London zu sein. Die Kraft, selbst einen Schlussstrich zu ziehen, hat sie schon längst nicht mehr, und wahrscheinlich wird sie die psychischen Deformierungen, die sie bereits jetzt zu „reinigenden“ Selbstbestrafungen zwingen, ein Leben lang mit sich herumtragen. Somit ist der Gewaltakt gegen den Vater letztlich nur der Beginn eines zweiten dornenreichen Weges. Die Präzision, mit der Roth bisher seine eigenen Filmrollen gestaltete, spiegelt sich nun auch in seiner Inszenierung. Seine Dreherfahrungen und seine Kenntnis der Filmgeschichte hat er zu einem eigenständigen Stil verflochten, wie man ihn in einem Debütfilm schon lange nicht mehr so eindrucksvoll erlebt hat. Die Wirklichkeitsnähe britischer Sozialdramen von Mike Leigh oder Ken Loach finden sich hier ebenso wieder wie die Selbstzweifel und innere Zerrissenheit Bergmanscher Figuren oder der tiefe Humanismus eines Robert Bresson. Der kammerspielartige Ton wird immer wieder durch den weiten Blickwinkel der Bilder aufgehoben, in denen Roth die Figuren kunstvoll arrangiert, Außen- wie Innenräume zu grafischen Tableaus macht. Die gedeckten Farben passen sich dem rauen Klima ebenso an wie der gedrückten Stimmung der Personen; lediglich Simon Boswells romantische Klavierklänge folgen gelegentlich den wenigen entspannten Seelenzuständen der Protagonisten oder konterkarieren ihren Verzweiflung.

Das Berührendste und zugleich Erschreckendste ist jedoch die Normalität, mit der sich die Geschichte abspielt und die die grandiosen Darsteller mit fast dokumentarischer Echtheit interpretieren. Ray Winstones Spiel lässt nie Zweifel am unverantwortlichen Handeln seiner Figur aufkommen, und doch gibt es Momente, in denen man dieser Gestalt mit Sympathie begegnen möchte, etwa wenn er zärtlich seine von den Geburtsfolgen noch „unförmige“ Frau umarmt. Tilda Swinton setzt ihren Körper mit Mut der Kamera aus, sodass man ihr jederzeit glaubt, dass sie die Katastrophe in ihrer Familie nicht verdrängt, sondern sie einfach nicht wahrgenommen hat. Das schauspielerische Potenzial der Laien Lara Belmont und Freddie Cunliffe, das Roth zutage fördert, ist geradezu phänomenal: Sie scheinen sich so tief in ihre Figuren hinein versetzt zu haben, dass man schon Angst haben kann, dass sie selbst durch diese Identifikation Schaden nehmen könnten. Vor allem im Umgang mit den „harten“ Szenen des Films zeigt Roth aber ein hohes Maß an Sensibilität und befriedigt nicht im Geringsten einen wie auch immer gearteten Voyeurismus, sodass in der Summe ein zutiefst aufwühlender Film entstand, der sowohl auf der Ebene der künstlerischen Inspiration als auch durch die Verantwortung gegenüber dem heiklen Thema überzeugt. „The War Zone“ beeindruckt nicht zuletzt auch dadurch so nachhaltig, dass Roth in erster Linie versucht, die Bilder sprechen zu lassen.
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