Wonderland (1999)

- | Großbritannien 1999 | 109 Minuten

Regie: Michael Winterbottom

Während eines langen Wochenendes kreuzen sich im Süden von London die Wege von mehr als einem Dutzend Menschen, die auf die ein oder andere Weise miteinander verwandt sind. Im kommunikativen Mittelpunkt stehen drei Schwestern, die sich in einem Café zum Tratsch oder zu dringenden Krisensitzungen treffen, wozu in diesen Tagen öfters Anlass besteht. Ein Großstadtporträt, das mit lakonischem Humor und beschwingtem Rhythmus ein pulsierendes Zeitbild entwirft, dabei aber auch existenzielle Untertöne der Figuren zum Klingen bringt und unterhaltsam den Zustand urbaner Familienverhältnisse beschreibt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WONDERLAND
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Revolution Films/Kismet Film
Regie
Michael Winterbottom
Buch
Laurence Coriat
Kamera
Sean Bobbit
Musik
Michael Nyman
Schnitt
Trevor Waite
Darsteller
Shirley Henderson (Debbie) · Gina McKee (Nadia) · Molly Parker (Molly) · Ian Hart (Dan) · John Simm (Eddie)
Länge
109 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Diskussion
Michael Winterbottom ist ein Phänomen: Sieben Spielfilme hat er in den letzten fünf Jahren inszeniert, von denen der jüngste („With or without you“) im Januar 1999 in Deutschland startet. Seine Überzeugung, dass es noch nie so einfach gewesen sei, in Großbritannien Filmprojekte zu realisieren, wirft ein bezeichnendes Licht auf den 38-jährigen Engländer, der sich mit jedem neuen Projekt einem anderen Sujet und damit auch einem anderen optischen „Look“ zuwendet. An Slawomir Idziaks geschliffene Farbspiele aus „I want you“ (fd 33 352) erinnert in „Wonderland“ kein einzige Einstellung. Vielmehr könnte einmal mehr Lars von Triers Keuschheitsschwur Pate gestanden haben, würde Winterbottom nicht glaubhaft versichern, mit dem dänischen Konzept erst in Berührung gekommen zu sein, als er sich schon mitten in den Drehvorbereitungen befand. Dennoch erinnert das pulsierende Großstadtporträt aus dem Süden Londons in vielem an die „Dogma ‘95“-Ästhetik, obwohl auf 16mm gedreht wurde: Die Unmenge von 150 Stunden belichteten Materials, die für den Schnitt zur Verfügung gestanden haben soll, wurde mit der Handkamera größtenteils ohne zusätzliches Licht und an öffentlichen Plätzen gedreht, sodass nicht nur reichlich Lokalkolorit eingefangen wurde, sondern auch viele Passanten und Nachtschwärmer unerhofft den Weg auf die Kinoleinwand fanden.

Erzählt wird die Geschichte von mehr als einem Dutzend Zeitgenossen, deren Wege sich während eines langen Wochenendes irgendwo zwischen Vauxhall, Brixton und Soho kreuzen. Dabei spielt der Zufall allerdings nur eine kleine Rolle, weil die meisten miteinander irgendwie verwandt sind. Kommunikatives Zentrum der verstreut lebenden Familienglieder sind die Schwestern Debbie, Nadia und Molly, die sich in dem Café, in dem Nadia arbeitet, zum Tratsch oder zu dringenden Krisensitzungen treffen. Dazu ist in diesen Tagen öfters Anlass, weil sich Mollys Ehemann kurz vor ihrer Niederkunft aus dem Staub macht. Verzweifelt klingelt sie am Sonntagmorgen die allein erziehende Debbie aus den Armen einer Zufallsbekanntschaft und sucht auch bei Nadia Trost, die ihres Single-Daseins zwar überdrüssig ist, mit ihren Blind Dates bislang aber entweder kein Glück hatte oder auf die Nase fiel. Ums (gestörte) Beziehungsleben kreist auch die Ehe ihrer Eltern, die sich in einem Reihenhäuschen auf die Nerven gehen und sich gegenseitig die Schuld zuschieben, dass ihr Sohn Darren jeden Kontakt zu ihnen abgebrochen hat. Was in der Beschreibung kompliziert und etwas abgedroschen klingt, entfaltet einen wunderbar fließenden, fast beschwingten Rhythmus, der durch die „märchenhafte“ Musik Michael Nymans in Anlehnung an die Titelanspielung „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll zusätzlich verstärkt wird. Obwohl sich mit den familiären Konfliktpotenzialen mühelos mehrere Folgen einer Soap Opera bestreiten ließen und die Handlung nicht mit lakonischem Humor spart, hat Winterbottom keine Mühe, fast existenzielle Untertöne zum Klingen zu bringen, was zum großen Teil seinen herausragenden Darstellern, aber auch der klugen Inszenierung zuzuschreiben ist. Indem viele Szenen nur angespielt und nicht bis zur Klimax ausgereizt werden, gewinnt das erzählerische Patchwork an Tempo, aber auch an Glaubwürdigkeit und Tiefe. Den Darstellern verlangt dieses Verfahren weniger und zugleich mehr ab, weil sie in pointierten Momenten ihre Charaktere fast transparent machen müssen, ohne sie in einer langen Einstellung entfalten zu können; vor allem Gina McKee und Molly Parker, aber auch den Routiniers Jack Shepherd und Kika Markham gelingt dies hervorragend.

Mehr aber noch als die bunte, pochende, in ihrer flirrenden Unruhe sehr zeitgemäße Momentaufnahme der Stadt an der Themse fesselt Winterbottoms unterhaltsame Studie durch die unspektakuläre Beschreibung dessen, was am Ende des Jahrhunderts aus urbanen (Arbeiter- und Angestellten-)Familienverhältnissen geworden ist. Dabei überrascht die Stabilität und Elastizität der Beziehungsbande, die mit Abstand und Distanz, aber ohne konventionelle Zwänge weiter bestehen. Die Entmachtung des Vaters ist fortgeschritten, der Sieg der Mutter allerdings mit spürbarer Unzufriedenheit erkauft, wie überhaupt das Gefühl einer gewissen Leere und unbestimmten Sehnsucht allen Figuren innezuwohnen scheint. Auch wenn man solche Beobachtungen nicht zu schwer gewichten sollte, weil Winterbottoms Figuren auch schon in früheren Filmen die Interpreten in gewagte Regionen lockten, erschließt sich durch die anteilnehmende, bei aller Sympathie für die Figuren nicht wirklichkeitsblinde Art der filmischen Herangehensweise etwas von der gesellschaftlichen Metamorphose einer Institution, deren ambivalente Züge im Doppelsinn der „Familienbande“ deutlich anklingt. Am Ende schließt sich so mancher Kreis, wenn die neugeborene Alice in den Armen der Hebamme schreit und sich Konfrontationen in gespanntes Wohlgefallen aufgelöst haben. Vom klassischen Happy End à la Hollywood ist Winterbottom dabei meilenweit entfernt, weil trotz des versöhnlichen Endes genügend Monster und Chimären benannt sind, die der Neugeborenen im „Wonderland“ begegnen werden.
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