Ein leicht heruntergekommen wirkender Mann betritt im Jahr 1946 eine Musikalienhandlung, um seine Trompete („mein Leben“) zu verkaufen. Als er im Geschäft ein letztes Mal zu spielen beginnt, erkennt der Händler die Melodie. Dasselbe Stück befindet sich auf einer zerkratzten und zusammengeflickten alten Schallplatte in seinem Laden. Der Händler spielt die Aufnahme ab, und der Trompeter beginnt voll innerer Bewegung zu erzählen: von seinen Jahren als Musiker an Bord eines Passagierdampfers, vor allem aber von seinem verlorenen Freund, dem Pianisten, dessen Spiel nun ein wenig Zauber in das düstere Ladenlokal bringt.In Giuseppe Tornatores Welterfolg „Cinema Paradiso“
(fd 27 990) war es der Tod des Filmvorführers Alfredo, der den erwachsenen Protagonisten Salvatore noch einmal in seine sizilianische Heimat zurück kehren lässt. Eine Reise nicht nur an die Plätze der Kindheit, sondern eine melancholische, bisweilen sentimentale Reminiszenz an einen geliebten Menschen, der zugleich für den Glanz einer unwiederbringlich vergangenen Zeit steht, für eine Art verlorenes Paradies, das auch ein Ort der Träume war, die im wirklichen Leben nicht eingelöst werden konnten; ein Ort des Glücks, der erst im Kontrast zur von Alltagssorgen geprägten Gegenwart als solcher bewusst wird. „Die Legende vom Ozeanpianisten“ ist nach einem ähnlichen Prinzip strukturiert. Handelt es sich bei der literarischen Vorlage zum Film noch um ein Bühnenstück für eine einzige Person, so führt Tornatore wiederum einen Erzähler ein, durch dessen Augen die eigentliche Hauptfigur betrachtet wird. Eine reizvolle Verschiebung, die nicht nur die charismatische Ausstrahlung des „Ozeanpianisten“ gleichsam zur Grundlage der Erzählung macht, sondern die auch die legendenhaften Züge in einen poetischen Gesamtkontext einbindet: Wichtig ist nicht, ob sich die Dinge tatsächlich auf diese Weise abgespielt haben; wichtig ist der emotionale „Abdruck“, den Neunzehnhundert (so der merkwürdige Namen des Pianisten) beim Erzähler/Trompeter Max hinterlassen hat; wichtig ist außerdem die Erzählung an sich, mit der Max nicht nur den Musikalienhändler in Bann schlägt.Am Morgen des Neujahrstages 1900 findet ein Mechaniker des Passagierdampfers „Virginian“ ein Baby, ausgesetzt auf dem Flügel des Ballsaals der Ersten Klasse. Er nimmt sich des Jungen an, gibt ihm einen Namen und zieht das Kind, das nirgendwo amtlich registriert ist – und folglich bei keinem Aufenthalt das Schiff verlassen kann – , zwischen Kesseln und Turbinen auf. Als der Junge acht Jahre alt ist, stirbt sein Ziehvater bei einem Arbeitsunfall. Doch die „Virginian“ bleibt Neunzehnhunderts Zuhause. Sein außergewöhnliches Talent wird entdeckt, als er sich eines Nachts in den Ballsaal schleicht und ohne jegliche Vorkenntnisse auf dem Klavier zu spielen beginnt. Nach und nach wird er zum geschätzten Bordmusiker und – dank seiner unorthodoxen Ansichten und seiner Fähigkeiten als Zuhörer – zum bevorzugten Gesprächspartner für Besatzung und Passagiere. An dieser Stelle kommt Max ins Spiel, und Tornatore inszeniert die erste Begegnung der zukünftigen Freunde einer Legende durchaus angemessen. Während der Trompeter in seinem ersten schweren Sturm auf See mit dem Gleichgewicht und seiner Übelkeit kämpft, steht ihm plötzlich der entrückt lächelnde Neunzehnhundert gegenüber, der ihn auffordert, sich zu ihm an den Flügel zu setzen. Der Pianist löst die Arretierung des Instruments und beginnt beseelt zu spielen, während das heftig schaukelnde Schiff den Flügel und die beiden Männer durch den leeren Saal „tanzen“ lässt. Die Fahrt endet schließlich in der Kajüte des Kapitäns und mit einem Strafeinsatz im Maschinenraum – der Beginn einer wunderbaren Männerfreundschaft.Später schafft Tornatore noch einmal einen spannungsvollen Höhepunkt: Längst ist die Kunde vom wundersamen Pianisten aufs Festland vorgedrungen, da schifft sich der Musiker Jelly Roll Morton, selbst ernannter „Erfinder des Jazz“, auf der „Virginian“ ein, um in einem „Klavierduell“ den unliebsamen Konkurrenten in die Knie zu zwingen. Augenzwinkernd er-weist der Regisseur hier dem klassischen Western-Showdown Reverenz, wenn Neunzehnhundert, der sich dem musikalischen Konkurrenzgebaren zunächst entziehen will, seinen arroganten Kontrahenten mittels seines „unmöglichen“ Klavierspiels zum Verstummen bringt. Zwischen diesen furios inszenierten Sequenzen liegen viele leise Momente: Gespräche und Beobachtungen über Grundfragen des Lebens. So verblüfft Neunzehnhundert Max mit detaillierten Kenntnissen von Städten, die er nie betreten hat, und mit seiner Fähigkeit, in den Gesichtern der Passagiere deren „Geschichten“ zu lesen – und sie gleich in Musik umzusetzen. Warum, so immer wieder Neunzehnhundert, solle er das Schiff jemals verlassen, da es ihm doch Welt genug sei, zumal ihn musikalischer Ruhm und Geld nicht locken könnten? Weil das Leben sich auf dem Land abspiele und er nicht auf ewig in der Zwischenwelt des Schiffes verharren könne, so Max sinngemäß. Ein einziges Mal in seinem Leben, nach der aufwühlenden Begegnung mit einer Passagierin, entschließt sich Neunzehnhundert zum Verlassen der „Virginian“. Sein minutenlanges Zögern auf der Treppe zum Festland wird zum emotionalen Höhepunkt, zur existenziellen Grundentscheidung – die Verheißung des Neuanfangs steht gegen das Wissen um den eigenen Ort; die Angst vor dem Unbekannten gegen die Angst, den Anschluss zu verpassen. Indem der Film diesen Konflikt auch an anderen Figuren (einem italienischen Bauern und nicht zuletzt Max) durchspielt, thematisiert er immer wieder die menschliche Grundfreiheit, sich auch gegen den „gesunden Menschenverstand“ entscheiden zu können – und manchmal zu müssen.In seinem bislang aufwendigsten Film führt der gebürtige Sizilianer Tornatore verschiedenartige Einflüsse erfolgreich zusammen: Trotz der internationalen Besetzung ist dies von der Stimmung und Atmosphäre her ein durch und durch „italienischer“ Film, dem der Gleichklang des literarischen Ausgangsmaterials mit reiner filmischer Poesie perfekt gelingt. Nicht zuletzt war es notwendig, die pianistische Inspiration des Protagonisten im Film auch zum Klingen zu bringen. Abermals hat sich Tornatore zu diesem Zweck der Mitarbeit Ennio Morricones versichert. Herausgekommen ist ein ungemein stimmungsvoller Soundtrack, kulminierend in dem ausgedehnten, dramaturgisch effektiv durchkomponierten „Klavierduell“. In einem bis in die Nebenrolle perfekt besetzten Ensemble beweist der Brite Tim Roth sein breit gefächertes Potenzial. Sein Neunzehnhundert changiert zwischen Lebensklugheit und Naivität, Entrücktheit und Entschlusskraft, Selbstgewissheit und Zweifeln. Ein Sonderling, dessen Außenseitertum sich nicht aus Verweigerung, sondern aus innerer Konsequenz speist. In der Rahmenhandlung kommt es zu einer letzten Begegnung zwischen Neunzehnhundert und Max, der vor dem Krieg das Leben als Bordmusiker aufgegeben hat. Max sucht den Freund an Bord der inzwischen ausgemusterten „Virginian“, die unmittelbar vor der Sprengung steht. Noch einmal versucht Max, den Freund zu „retten“, und noch einmal erweist sich, dass eigentlich Max derjenige ist, dessen Leben der Orientierung und „Rettung“ von außen bedarf. Unter dem Vorwand einer „Bezahlung“ für seine Geschichte gibt ihm der Händler schließlich seine Trompete zurück: „Sie werden sie brauchen.“