Liebesfilm | Frankreich/Schweiz/Belgien 1998 | 87 Minuten

Regie: Thomas Vincent

Ein algerischer Immigrant der zweiten Generation verliebt sich während des Karnevals in Dünkirchen in eine verheiratete junge Frau. Außergewöhnlicher Debütfilm, der das fiktive Geschehen teilweise mit dokumentarischer Handkamera einfängt. Bravourös gespielt und präzise inszeniert, ist die Dreiecksgeschichte in ein vielschichtiges Geflecht von Anspielungen eingebettet, aus dem vor allem die Reflexion über Maskierungen hervorragt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
KARNAVAL
Produktionsland
Frankreich/Schweiz/Belgien
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
ADR Prod./Compagnie Mediterraneenne du Cinéma/Thelma Film/Arte France Cinéma/RTBF
Regie
Thomas Vincent
Buch
Thomas Vincent · Maxime Sassier
Kamera
Dominique Bouilleret
Musik
Krishna Levy
Schnitt
Pauline Dairou
Darsteller
Tarek Ben Abdallah (Larbi) · Sylvie Testud (Béa) · Clovis Cornillac (Christian) · Martine Godart (Isabelle) · Jean-Paul Rouve (Pine)
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Liebesfilm
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Diskussion
Kollektive Ausnahmezustände wie Karneval kann man als Außenstehender nur schwer verstehen, es sei denn, man lässt sich persönlich auf das närrische Treiben ein. Zwar haben Ethnologen und Kulturwissenschaftler eine Fülle an Bezügen aufgedeckt, die Genese, Funktion und Bedeutungswandel des Faschings beschreiben, doch so interessant und spannend viele Interpretationen sein mögen: das archaische Potenzial ritualisierter Entgrenzung erschließt sich primär über den Weg der Erfahrung. Auch für den französischen Nachwuchsregisseur Thomas Vincent (geb. 1964) stand das eigene Erleben am Beginn seines außergewöhnlichen Debütfilms: die Begegnung mit dem Karneval von Dünkirchen, der auf die Kabeljau-Fischerei des 19. Jahrhunderts zurück geht. Zu Beginn der Fangsaison wurde den Seeleute die Hälfte ihrer Heuer ausbezahlt, die sie dann innerhalb weniger Tage auf den Kopf hauten, ehe sie für Monate das Land mit dem Meer vertauschten. Aus dieser Zeit stammen die bizarren Kostüme mit Baströckchen, Federschmuck und Kriegsbemalung, in denen drei Gestalten eingangs zwischen den Dünen auftauchen und sich singend und tanzend auf die graue Hafenstadt zu bewegen. Der surreale, fast magische Anklang ist durchaus gewollt, klingt in ihm doch eine deutende Distanz zum Mummenschanz an, die auf ganz andere Weise auch die Hauptfigur des Films teilt: Larbi, Sohn algerischer Einwanderer, muss sich nicht schminken, um als „Wilder“ zu gelten. Als Mitglied der „zweiten Generation“ gehört er nirgends uneingeschränkt dazu, weder zur Kultur seiner Eltern noch zu der der neuen Heimat. Nach einem handgreiflichen Streit mit seinem Vater will er den tristen Wohn- und Lebensverhältnissen im Norden Frankreichs den Rücken kehren und sich in den Süden nach Marseille absetzen. Doch der letzte Zug hat den Bahnhof bereit verlassen, weshalb er sich eine regnerische Nacht um die Ohren schlägt und dabei auf Bea trifft, eine junge Frau, der er hilft, ihren betrunkenen Ehemann in die Wohnung zu hieven. Der Kuss zum Abschied ist jedoch nicht flüchtig genug, weshalb der stille Mann mit der Narbe über den rechten Auge am Morgen wieder aus dem Zugabteil springt und mit einem Ring bei Bea auftaucht, was einen heftigen Ehekrach und in der Folge weitere Verwicklungen nach sich zieht. „Karnaval“ ist ein dichter, sehr genauer und trotz seiner dokumentarischen Authentizität vielschichtiger Film, der eine ganze Reihe von Bedeutungsebenen birgt. Seine Kraft steckt in der gelungenen Kombination realer Aufnahmen vom Faschingstreiben in Dünkirchen mit einer präzisen Entwicklung der wortkargen Figuren, wobei der häufige Einsatz der Handkamera den Eindruck der Unmittelbarkeit zusätzlich unterstreicht. Der Sog der Ereignisse reißt nicht nur Larbi mit, sondern schlägt auch den Zuschauer in Bann, wenn der stampfende Rhythmus der Trommeln und die wüsten, oft obszönen Lieder die Grenzen des Ichs durchlässig machen. Inmitten dieser schillernden Mischung aus Animalität und Traumseligkeit sucht die Kamera im Trubel immer wieder die Gesichter von Larbi und Bea, zwischen denen sich eine Anziehung breit macht, die über das Unverbindliche bacchantischer Amnesie hinaus drängt. In ihren Blicken spiegelt sich sowohl das innere Drama des Individuums, permanent zwischen widersprüchlichsten Regungen ausgleichen zu müssen, als auch die Sehnsucht, diesen Konflikten zumindest zeitweilig zu entkommen. Dass die von den Darstellern ebenso bravourös wie eindringlich gespielte Dreieckskonstellation zwar die dramaturgische Leitlinie bildet, aber in ein filigranes Geflecht von Anspielungen eingebettet bleibt, sichert dem Sujet eine große thematische Weite, aus der vor allem die Reflexion über Masken und Maskierungen heraus ragt. Die groteske Travestie bärtiger Hafenarbeiter, sich mit Strapsen, Stöckelschuhen und Büstenhaltern zu drapieren, ihre „Männlichkeit“ aber ostentativ an langen Stangen vor sich her zu tragen, verweist so sehr wie die Kriegsbemalung als „Wilder“ auf das ausgeschlossene „Andere“, dem für rare, alkoholisierte Stunden Anerkennung gezollt wird. Dabei weiß „Karnaval“ auch den Umstand zu reflektieren, dass die Dünkirchener Kostümierungen im Grunde nur noch historische Staffage sind, die im Kontext einer Erlebnisgesellschaft Zitatcharakter haben: indem er die Figuren häufig beim Verkleiden oder Schminken zeigt und mit Vorliebe auf Masken im Stadium ihrer Auflösung verweilt, wenn hinter den verwischten Farben die aufgequollenen Gesichtszüge zum Vorschein kommen. Das „Andere“ der Gegenwart, so lassen es viele eindringliche Bilder vermuten, liegt nicht (mehr) im „Gender“-Bereich, sondern oszilliert zwischen dem Interkulturellen und einer abgründigen Sehnsucht nach kollektiver Symbiose. Ein algerischer Immigrant der zweiten Generation verliebt sich während des Karnevals in Dünkirchen in eine verheiratete junge Frau. Außergewöhnlicher Debütfilm, der das fiktive Geschehen teilweise mit dokumentarischer Handkamera einfängt. Bravourös gespielt und präzise inszeniert, ist die Dreiecksgeschichte in ein vielschichtiges Geflecht von Anspielungen eingebettet, aus dem vor allem die Reflexion über Maskierungen hervor ragt. - Sehenswert ab 16.
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