Irgendwann, als sich der Bierfahrer Hannes aus Dortmund längst auf einem mächtigen Fährschiff auf der Ostsee befindet, das ihn seinem Ziel im äußersten Norden Finnlands näherbringen soll, verharrt die Kamera auf einer kitschigen Allerweltswanduhr: Das Ziffernblatt ist mit einer kleinen finnischen Nationalfahne bedruckt, und darüber steht: „Rhythm“. Was eigentlich nur der Firmenname des Herstellers ist, bekommt zu diesem Zeitpunkt den Beigeschmack einer nahezu magisch beschworenen Formel, denn der erzählerische Rhythmus, der (Lebens-)Takt des ganzen Films hat sich auf sehr spezifische Art auf eine „Entdeckung der Langsamkeit“ eingelassen, für die der Zuschauer Bereitschaft und innere Ruhe mitbringen muß. Peter Lichtefeld erzählt die unspektakuläre, etwas versponnene Geschichte von einem, der auszog, das Leben (neu) gewichten zu lernen. Dazu bricht er auf in ein fernes Land, in dem er weit von den Menschen entfernt sein wird, um ihnen am Ende wieder ganz nah zu kommen – vor allem einer Frau, die er lieben lernt, aber auch einem melancholischen Polizeikommissar, von dessen Existenz er bis zum Ende gar nichts weiß, dessen Art des Ermittelns, Forschens und Denkens er aber ungewollt beeinflußt.Bereits zu Beginn von „Zugvögel“ verbinden sich Bilder der finnischen Landschaft mit der Off-Stimme von Hannes, der noch daheim in Dortmund in seinen schmucklosen vier Wänden monoton Eisenbahnverbindungen herunterbetet. Schon hier bekommt seine Litanei im Angesicht der vorbeifliegenden Landschaftsbilder eine eigentümliche Poesie, getränkt von der Sehnsucht nach Ferne und Abstand von den Dingen. Hannes freilich wäre zu diesem Zeitpunkt der letzte, der dies wahrhaben wollte. Sein Traum ist da noch ganz handfest und pragmatisch: Der etwas schüchterne, leicht verträumte Mann studiert und memoriert internationale Eisenbahnfahrpläne, weil er am ersten internationalen Wettbewerb für Kursbuchleser im nordfinnischen Inari teilnehmen will. Dort, am Ende der Welt, werden Bahnexperten aus aller Welt erwartet, was Hannes, den Amateur aus dem Ruhrgebiet, nicht weiter schreckt: er ist sich sicher, daß er die Gewinnprämie von 50.000 DM einstreichen wird. Davon kann ihn auch die Arroganz seines neuen Chefs nicht abhalten, der Hannes feuert, worauf dieser mit einem Faustschlag quittiert und abreist. Was Hannes nicht weiß, ist, daß sein Chef wenig später ermordet wird und sich der clevere Kommissar Fanck an seine Fersen heftet. Der ahnungslose Tatverdächtige reist mit der Eisenbahn gen Norden, wobei er in die krummen Geschäfte eines Schlafwagenschaffners verwickelt wird, aber auch der Finnin Sirpa begegnet, in die er sich verliebt. Die Ereignisse fliegen wie im Traum vorüber und werden von Zufällen bestimmt, die Hannes immer wieder vor dem Zugriff der Polizei bewahren. Je mehr er in die Einsamkeit des hohen Nordens vordringt, desto mehr schärfen sich seine Wahrnehmungen. Hannes wird immer deutlicher, daß es in diesem traumhaften Fluß der Dinge nur eines gibt, das es für ihn festzuhalten gilt – seine Liebe zu Sirpa.„Zugvögel“ ist sanfte Komödie, suggestives (Rail-)Road-Movie und skurrile Kriminalgeschichte – und doch auch etwas ganz anderes, viel eigeneres und eigensinnigeres. Souverän überspringt Lichtefeld konventionelle Erwartungshaltungen an ein bestimmtes Genre und verwandelt die Abenteuergeschichte zu einem poetischen Spiel mit Schwingungen, Strömungen, Bewegungen und Begegnungen, das nicht von ungefähr an den spröden Charme der Filme von Aki Kaurismäki erinnert. Behutsam dringt Lichtefeld unter die Oberfläche, indem er die Geschichte auf zwei Ebenen ansiedelt: auf einer unmittelbar der Spielhandlung verpflichteten und auf einer „höheren“ (Meta-)Ebene, wo die Dinge einen anderen, feineren Sinn bekommen. So ist der nahezu unbewußt agierende Hannes nicht nur unwissentlich auf der Flucht vor der Polizei, sondern befindet sich intuitiv auch auf einer Flucht vor seinem bisherigen Dasein. Diese betreibt er freilich mit solch instinktiver Zielsicherheit, daß davon eine Sogwirkung ausgeht, die auch andere erfaßt: die traurige, in ihrer Liebesbeziehung vernachlässigte Sirpa ebenso wie den Polizeikommissar, dessen Nachforschungen alles andere als konkrete Resultate erbringen und der dennoch eine Art von Erkenntnis mit nach Hause nehmen wird. Die finnische Landschaft der Seen und spätsommerlichen Wälder erscheint dabei gleichsam als Stimmungsbarometer, obwohl sie oft nur durchs Zugabteilfenster wahrzunehmen ist, wie auf einer zweiten Leinwand, auf der sie vorbeifliegt. Bereits zuvor deckte Lichtefeld in der Arbeitswelt Deutschlands etwas von der Tristesse jenes Finnland-Bildes auf, das man aus den Filmen Kaurismäkis kennt, und er fand dort auch wesensverwandte Menschen: Träumer, gute Freunde, still gewordene, aber alles andere als resignierte Menschen, die sich ihre Vorstellungen und Sehnsüchte bewahrt haben. „Zugvögel“ regt zu vielem an. Unwillkürlich muß man des öfteren auch an Alfred Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“ (fd 8 754) denken, in dem sich vor 40 Jahren ein unschuldig Verfolgter auf eine Fluchtbewegung im Zug begab. Ganz anders als Cary Grant und doch wesensverwandt, spielt Joachim Król einprägsam und zurückhaltend-lakonisch mit mal träumerischer, mal zielorientierter Beharrlichkeit. Um ihn herum tauchen immer wieder jene liebenswert-skurrilen Darsteller aus den Filmen Kaurismäkis auf, die ihn inspirieren und „fördern“. Nicht zuletzt ist „Zugvögel“ ein Film über die Zeit, auch über die Lebenszeit der Menschen, die sie so gewinnbringend wie möglich zu füllen versuchen – mit Reisen und Begegnungen, mit Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit, aber auch mit der Bereitschaft, ein Ziel aus den Augen zu verlieren, wenn die Schönheit des Weges lockt.